Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)
zurück und sie sitzt da, sieht aus dem Fenster, alles Mögliche geht ihr durch den Kopf, denke ich, aber alles, was ich spüre, ist die Tiefe einer Ruhe, über die ich nichts weiß, die ich nicht habe, die sich mir jedoch sofort vermittelt, die mich gleichsam ansteckt. Und mit einem Mal wünsche ich mir, dass es keine Sprache, keine Laute gibt, nur die Schönheit, denn – auch wenn ich das nie aussprechen würde – sie wird es eines Tages sein, die uns alle retten wird.
Hiromi glaubt an die Stille. Ich weiß nicht, was sie sagen würde, wenn ich so etwas wie das über die Schönheit laut ausspräche. Vielleicht lachen, denke ich, sie kann so laut lachen wie niemand sonst, den ich kenne. Hiromi und ich. Wir schweigen viel zusammen in dieser ganzen Paris-Zeit. Hiromi ist damals der erste Mensch, der meinen Kindheitstraum wahrmacht. Wir sprechen miteinander, ohne viel zu reden. So vergehen die Monate, ein Denken wie in Watte, wir, zwei in Paris Gestrandete, im Schlaf Wandelnde. Jede von uns ist aus einem anderen Grund hier. Wir leben. Jetzt in Paris. Wir sind hier. Zusammen. Irgendwann werden wir Futur Zwei geworden sein. Wir sind jetzt hier. Wir sind mitten im Leben.
Pflichtbewusst ging ich jeden Tag zur École des Hautes Études. Tag für Tag kam mir mein Studium überflüssiger vor. Wozu studieren wir eigentlich alle, fragte ich Hiromi, die nur weise vor sich hinkicherte. Ich wusste, dass sie mir ohnehin nie eine Antwort auf solche Fragen gab. Stattdessen machte sie einen grünen Tee und sagte, der ist gut, ich habe einen neuen Laden im sechsten Arrondissement gefunden. Und nach dem Tee fuhren wir mit den Rädern ins Quartier Latin, und sie zeigte mir den Laden, in dem es nicht nur Tee, sondern auch Kleidung, Hausschuhe, feine Ess-Stäbchen, Tassen, Teller gab. Ich vergaß ganz schnell meine Fragen und kaufte mir ein Seidenunterhemd. Lachend machten wir uns über die Pont des Arts und durch die Tuilerien auf den Weg nach Hause. Ein Milizionär versuchte, uns mit seiner Trillerpfeife anzuhalten, aber wir entwischten ihm und landeten direkt an der Place de la Concorde. Von dort fuhren wir über die Place de la Bastille und nach Hause zurück. In der ganzen Stadt waren wir die einzigen, die Fahrrad fuhren, auch in unserem Hof fielen wir damit auf. Die Concierge zwang uns, die Räder in die Wohnung zu tragen, damit sie regelmäßig kehren konnte. Als ich vor ein paar Monaten Mischa Weisband in Paris besucht habe, waren alle Straßen voll von Rädern, sogar Fahrradstreifen entdeckte ich überall.
Jeden Morgen gingen Hiromi und ich zum Boulevard Raspail. Es regnete oft. An allen Nachmittagen ging Hiromi pflichtbewusst in ihre Modeschule. Sie war unermüdlich und scheinbar ohne Pause fleißig. Mir ist nie klar geworden, warum es ihren Eltern nicht genügte, dass sie Philosophie studierte. Die Mode war ein Kompromiss, den sie mit ihr ausgehandelt hatten. Als ich wissen wollte, was der Grund dafür war, zuckte Hiromi nur mit den Schultern. Ich glaube, sie war anfangs erst unglücklich über den Kompromiss, fand aber schließlich mehr Gefallen daran als an ihrer ursprünglichen Idee. Und so kam es, dass in unserer Wohnung immer seltener Philosophiebücher zu finden waren, und Stoffe, Schnittmuster, Scheren und Näh-Utensilien mehr und mehr das Bild prägten. Das wirkte irgendwann ansteckend auf mich. Eines Tages begann Hiromi, mir Aufträge zu erteilen. Ich musste in der Stadt nach ganz bestimmten Stoffen suchen, bis sie irgendwann ihre erste kleine Kollektion fertigstellte. Sie ließ mich kleine Sachen für sie nähen. Ihre Eltern, zwei mir unbekannte Menschen aus Tokio, haben dazu beigetragen, dass ich den Stoffen in jener Zeit mehr als Diogenes in der Tonne abgewinnen konnte. Völlige Unabhängigkeit des Menschen von seiner Außenwelt war für ihn eine Tugend. Einer solchen Idee konnte ich damals nur misstrauen. So unabhängig konnte man doch nicht einmal in einer Tonne sein. Oder konnte man es doch? Und was war mit der Angst? Am Ende, das hatte ich am eigenen Leib erfahren, wollen wir alle leben, wir wollen uns retten.
In der belagerten Stadt gab es jetzt genügend leerstehende Tonnen, in die Diogenes sich hätte setzen können. In Paris auch. Aber hätte er es getan? Wer würde sich freiwillig in eine Tonne setzen, wenn es über ihm Granaten regnet? Die Tonne war ohnehin nur ein Übersetzungsfehler, das lernten wir in einem unserer Seminare, und als ich meiner Mutter am Telefon davon erzählte, wurde ihre Stimme
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