Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)
lebendig, wie früher, wenn sie neue Bücher nach Hause brachte und Übersetzungen anfertigte, die sie glücklich machten. Oder hat Diogenes, der Wanderer, in einer echten Tonne gelebt? Ich konnte mir eher einen Übersetzungsfehler als die Tonne vorstellen. Seine Erkennungszeichen waren Wanderstab, Rucksack und Essensschale. Die falschen Flüchtlinge teilten das mit ihm. Aber auch ich, Hiromi, Nadeshda, Ilja, meine Mutter, der kleine Ezra und auf eine besondere Weise auch mein Arik, der am Ende, wie fast alle von uns in Paris, die Gelegenheit bekommen hat, seine alten Schatten abzustreifen. Dieser Gedanke lässt mich nicht los, es kommt mir die Formulierung in den Sinn, dass wir damals alle das Handwerk des Sehens erlernt haben und gerade die Umwege uns zu dem gebracht haben, was wir heute unser Leben nennen. Menschen wie wir tragen heute zwar keinen Wanderstab und keine Essensschale mehr bei sich, können diese Gegenstände aber in verschiedenen Sprachen benennen. Wir können sie mit Wörtern fühlen. Es bleibt, das wurde mir damals klar, nur das fremd, was sich mit dem eigenen Leben nicht vermischt. So unbeschrieben ist kein Mensch. Es ist das Unterwegssein, das die Beschriftung mit sich bringt. Nicht der Wanderstab als solcher. Nicht der Rucksack. Nicht die Essensschale. Oder ist Mischa in Frankreich nach all den Jahrzehnten immer noch ein Fremder, weil nicht Französisch, sondern Deutsch die Sprache seiner Kindheit war?
Zuhause lagen überall Stoffe, morgens noch ordentlich zusammengefaltet, bunte Baumwollstoffe, gepunktete Seidenstoffe, dicke und dünne Cordstoffe. Ich sah Hiromi stundenlang beim Zeichnen zu. In der Küche lagen ihre Petitionen, nun ging es um kanadische Bären, manchmal auch um die weltweit aussterbenden Bienen. Artikel, die sie kopierte und in die Briefkästen unserer Nachbarn warf, riefen zum Nachdenken auf: »Lautlos sterben weltweit Milliarden von Bienen, unsere gesamte Nahrungskette ist in Gefahr. Doch ein weltweites Verbot einer bestimmten Gruppe von Pestiziden könnte die Bienen vor dem Aussterben retten. Handeln Sie jetzt! Unterzeichnen Sie diese dringende Petition zum Schutz unserer Bienen und Ernährung. Bitte leiten Sie diesen Aufruf an alle weiter, die Sie kennen. Es geht uns alle etwas an!«
Irgendwann brachen in der belagerten Stadt die Telefonleitungen vollständig zusammen. Ich erreichte niemanden mehr. Dann fing ich an, quer durch Paris zu gehen, über die breiten Straßen, über Brücken, immer quer über alles, was da war. Meistens von der Bastille bis zur rue de Rennes im Sechsten Arrondissement, dort traf ich mich mit Hiromi. Irgendwann fiel mir eine Frau vor dem Kino auf, die immer zur gleichen Zeit wie wir dort eintraf. Das war Nadeshda. Ich hielt sie zuerst für eine Russin. Wir freundeten uns schnell an. Bald war klar, dass sie nicht aus Russland stammte. Am ersten Abend gingen wir zu dritt etwas essen. Nadeshda war Physikerin und hatte Bibelwissenschaften studiert, aber alles wieder aufgegeben, weil sie, wie sie sagte, Geschichten erzählen wollte. Ich verstand erst überhaupt nicht, wie sich die Physik, die Bibel und das Erzählen in einem einzigen Kopf vereinigen konnten, wahrscheinlich war sie der einzige Mensch, dem das gelang. Obwohl es beinahe hoffnungslos war, versuchte ich es dennoch immer wieder, in die belagerte Stadt durchzukommen. Ich wählte abwechselnd die Nummern meiner Verwandten, rief Nachbarn an, ehemalige Lehrer, unseren alten Bäcker, am Taubenplatz, oberhalb der Synagoge. Wer immer mir einfiel, den rief ich an. Immer mit dem gleichen Ergebnis, keine Verbindung. Fast alles, was später geschah, erfuhr selbst ich nur aus Zeitungen. Dennoch gab ich nicht auf, sogar die Nummer unseres halbtauben Tantchens Alina wählte ich. Aber auch sie meldete sich nicht und war vielleicht auch längst gestorben. Als ich an einem solchen Nachmittag das Wählen aufgab und durchatmete, klingelte das Telefon. Es war Arik. Er wollte mich treffen und wartete kaum zehn Minuten später vor der Wohnung auf mich. Fortan saß er täglich in meinem Café, lächelte, war einfach da, bestellte einen Crème für mich. Einige Tage später fragte er, ob er mich zum Essen einladen dürfe. Andere Freunde, sagte er, kämen auch mit. Wir verabredeten uns zum Aperitif in einem Café, das er ausgesucht hatte. Es hieß Le Mars und befand sich in der Nähe der Pont Mirabeau. Von meiner Mutter wusste ich, dass sich Paul Celan von dieser Brücke in die Seine gestürzt hatte. Obwohl ich
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