Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)
nicht weiter darüber nachdenken wollte, lief mir bei der Vorstellung eines solchen Todes sofort eine Gänsehaut über den Rücken. Es war ein kalter Schauer, der sich kurz über meine Aufregung legte und mir sagte, dass Arik ein gänzlich fremder Mann für mich war. Irgendetwas daran beunruhigte mich, aber genauso gefiel mir das neue Gefühl des Unbekannten, weil es das Neue war, etwas, das ich noch nie selbst erlebt hatte.
Ich öffnete die Tür zum Café. Lächerlich laut klopfte mein Herz. Drinnen wurde geraucht. Arik saß allein an einem Tisch und trank schon Wein. Ich trat an ihn heran, er zog mich gleich an sich, legte seinen Arm um meine Taille. Ohne ein Wort setzte ich mich zu ihm. Arik bestellte mir etwas mit Gin. Es kamen Leute vorbei, die ihn erkannten. Unterwürfig verbeugten sie sich vor ihm, während sie ihm Stift und Papier, einen Zeitungsartikel oder auch ein Buch hinhielten, mit der artig formulierten Bitte um ein Autogramm. Ich staunte über die Lässigkeit, mit der er ihren Bitten entsprach und auch dass es ihn nicht störte, fremde Bücher zu signieren. Aber später erfuhr ich, dass es Kataloge von seinen Ausstellungen waren und seine Fotos in verschiedenen Tageszeitungen erschienen, da er manchmal auch Reportagen über Krisengebiete schrieb. Nach langer Zeit hatte mich wieder jemand umarmt. Elektrik, das war alles, was mir möglich war zu denken. Seine Berührungen. Wie sehr mir die Nähe eines Körpers in all diesen Stunden, Tagen, Wochen, Monaten des Abschieds und Abstands gefehlt hatte, merkte ich erst jetzt. Ariks Freunde tauchten nicht auf. Eine eigenartige Ruhe überkam mich. Sie war dumpf, dem Gin abgerungen, flirrend legte sie sich auf mich, zusammen mit Ariks Fingerkuppen, mit seinen Berührungen, ohne die ich fortan nicht mehr leben wollte. Ich stellte keine Fragen. So hat sie angefangen, unsere lange Geschichte.
Wir aßen in einem indischen Restaurant, tranken zwei Flaschen Wein, Rosé, den ich vorher nie getrunken hatte. Und ich hatte noch nie über drei Stunden hinweg ohne Unterbrechung einem Menschen in die Augen gesehen. Irgendwann küsste er mich. Ich glaube, es war noch vor der Nachspeise. Seine Finger glitten über mein Gesicht, meine Ohren, meinen Mund. Einerseits nahm ich alles genau wahr, andererseits löschten seine Berührungen alle anderen Empfindungen in mir aus. Es war, als ginge er mit seinen Fingern strategisch vor, als berührte er mich, um mich von Innen her umzuprogrammieren. Es schaltete etwas in mir ab. Vorher hatte ich dieses Etwas wie ein zusätzliches Gewicht mit mir herumgetragen. Jetzt war eine Lücke da, ein Loch in mir, in das die Schwere hineingefallen war. Arik schob mich ein Stückchen von sich weg, sah mich an, begutachtete mich, zog mich fest an sich, sagte, du hast ein schönes Kleid an, dieses Violett passt gut zu deinen grünen Augen. Seitdem sind neun Jahre vergangen. Noch immer kann ich mich an Ariks Fingerkuppen erinnern. Seine Hände kamen mir wie die Verlängerungen aller Hände vor, die mich je berührt hatten. Es war mein Körper, nicht mein Kopf, der all das von Arik wollte. Ich kannte ihn nicht und konnte alles in ihm sehen. Nach dem Essen verabschiedeten wir uns an der Métro. Und dann sagte er, wenn du das nächste Mal genauso brav bist, werde ich dich mitnehmen, zu mir nach Hause. Später glaubte ich, mir diesen Satz eingebildet zu haben. Aber Wort für Wort kamen mir am Ende immer wieder in den Sinn, es war der Rhythmus, seine merkwürdige Verlangsamung, die mich an ihm störte, die Worte selbst aber klangen, vor allem im zweiten Teil des Satzes, wie eine verlockende Einladung, die mich an irgendetwas von früher erinnerte. Nach Ariks Verschwinden begriff ich, was es war, und ich verstand, dass Liebende sich einander am Anfang alles sagen, was sie am Ende ihrer Geschichte einlösen.
Auch beim nächsten Mal trafen wir uns an der Pont Mirabeau. Er bestimmte das, und ich war anfangs einverstanden, weil er die Stadt besser kannte. Wir bestellten wieder Wein. Nach zwei Gläsern stand Arik plötzlich auf, er musste irgendwohin, hatte es eilig, redete kaum, ganz anders als bei unserem ersten Treffen. Beim nächsten Mal gingen wir zu einem Chinesen in der Avenue Émile Zola, ich dachte an sein Buch Nana , das ich mit fünfzehn aus dem Regal meiner Mutter gezogen und in den Sommerferien gelesen hatte, ohne richtig zu verstehen, worum es eigentlich ging.
Arik versuchte mich zu überreden, wieder Fleisch zu essen. Er fragte mich aus, über die
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