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Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)

Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)

Titel: Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marica Bodrožić
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vielleicht in meiner Stadt vor der Belagerung hätten sagen müssen. Erheben Sie Ihre Stimme gegen die Barbarei! Stehen Sie ein für die Zivilisation! Es betrifft uns alle! Verdammt noch mal! Gehen wir hin! Machen wir die Augen auf! Nehmen wir Anteil! Denken wir mit unseren eigenen Köpfen! Finden wir eine Sprache für das, was wir sehen! Meine Mutter sagt, Alma wird nie wieder in unsere Stadt zurückkehren. Ich werde auch nicht zurückkehren. Das erzähle ich nur niemandem, ich behalte es für mich. Manches muss ich leise in mir tragen, bis ich es verstehe und den Mut gesammelt habe, das in meiner inneren Stille Verstandene zu leben. Mutter und Vater gehen trotz Granatenhagel jeden Tag zum Friedhof. Manchmal auch im Schutz der Nacht, wenn die Soldaten auf den Bergen sie nicht so gut sehen können. So machen es alle, die bei ihren Toten beten oder in Ruhe ihre Toten begraben wollen. Auch zur Markthalle gehen meine Eltern, meistens zum ungünstigsten Zeitpunkt, wenn alle anderen in die Schutzkeller hinabsteigen. Mutter setzt dann ihre Sonnenbrille auf, die wir in der Galerie Lafayette vor dem Krieg für sie gefunden haben. Sie hat wie jeden Tag gleich nach dem Aufstehen ihren schönen roten Lippenstift aufgetragen und geht durch die Stadt, als würde sie flanieren. Sie sind beide lebensmüde. Aber meine Mutter kämmt sich dennoch das Haar, zieht ihr hübschestes Kleid an, knielang, dunkelrosa Stoff in einem Muster aus weißen Blumenkristallen, und dazu ihre schwarzen Samtschuhe mit Absatz. Ich höre die Lebensmüdigkeit in ihren Stimmen. Vor allem Mutter ist es egal, ob sie stirbt oder nicht. Hauptsache, wir sehen gut aus, wenn es soweit ist, sagt sie, aber ihre Stimme bricht weg, ich höre, dass sie nach unserem Telefonat wieder weinen wird, dass sie die Tränen nicht zurückhalten kann und diese Kraft nicht mehr aufbringt, mit der es ihr sonst immer möglich war, alles auszuhalten. Sie weint am Anfang der Belagerung immerzu. Dann hört sie irgendwann damit auf. Selbst wenn sie mir heute über die Zerstörung der antifaschistischen Denkmäler erzählt, weint sie nicht. Dabei weiß ich, dass sie das besonders getroffen und jeder Hoffnung an das Gute beraubt hat. Onkel Milans Arbeit hat sie immer geliebt.
    Eine Zeit lang kommen Vaters Briefe noch bei mir in Paris an. Er schickt sie an die Adresse von Tante Mila, die sie mir übergibt. Wir reden und gehen miteinander bei Sophie essen. Vaters Sätze schnüren mir das Herz zu. Sie zerschneiden mich von Innen. Rasierklingen. Der Strom wird ihnen abgestellt. Sie kochen sich etwas im Garten. Der Kirschbaum wird gefällt. Mein Großvater, der Diplomat, hat ihn gepflanzt. Holz ist vonnöten. Großvaters Liebe, Großvaters Diplomatie, sie zählen jetzt nichts mehr. Sie sind immateriell. Belanglose Erinnerung. Es ist kalt in der Stadt. Andere Menschen in anderen Ländern haben andere Sorgen. Die einen haben keine Milch zum morgendlichen Kaffee und deshalb schlechte Laune. Andere wieder haben einen ominösen Schmerz im linken großen Zeh, der erst harmlos erscheint und dann ausufert, der Zeh wird Tag um Tag dicker und die Angelegenheit wird ein richtiges Problem. Ein anderer Mensch verliert gerade seinen Vater, der ihn geliebt hat; in irgendeinem friedlichen Land dieser Welt stirbt er einfach so, bei der Nachspeise, beim Abendessen, nach einem Liebesakt. In Paris essen gerade ein paar hunderttausend Menschen zu Mittag. Französische Frauen stellen für alle anderen Frauen weltweit ein Rätsel dar. Sie essen. Sie genießen. Sie trinken Wein. Und sind rank und schlank und schön und haben Familien, gebären Kinder und bleiben begehrenswert. Was ist nur ihr Geheimnis? Oder leben sie einfach nur gerne? Andere Leute tragen nicht einmal den Ansatz eines Geheimnisses in sich, manche sind einfach nur jämmerliche Betrüger. Manche nur Genießer. Manche Leser. Manche Kaffeetrinker. Alles passiert gleichzeitig. Revolutionen und sexuelle Vereinigungen, Geburten und Operationen, chirurgische Meisterleistungen und Granatenschläge und ein Liebeshinterhalt zieht viele schlechte andere Lügen und neue betrogene, naive Menschen nach sich. Das Falsche. Das Richtige. Echte Gefühle. Unechte Blicke. Alles ist zeitgleich. Alles ist jetzt. Ich laufe durch die Straßen von Paris und sehe lächelnde Kinder. Ich laufe durch die Straßen von Paris und sehe feine Frauen mit schönen Körpern in eng geschnittenen Seidenblusen. Ich laufe durch die Straßen von Paris und sehe Käseläden, Schaufenster,

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