Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)
ihnen allen nie gehört hat. Das nur eine dumme sentimentale Idee war. Meine Mutter erzählt nichts über sich, aber sie weiß alles über die anderen, hat gehört, dass ein Mann aus der Nachbarschaft in menschliche Gehirne getreten ist, die er vor lauter Hunger zuerst für Tomatenmasse gehalten hat. Alma liegt ihr besonders am Herzen. Die schöne Tänzerin, sagt sie wieder und wieder, die schöne Tänzerin Alma ist angeschossen worden. Sie war das schönste Mädchen unseres Viertels, das haben die alten Leute am Taubenplatz immer gesagt. Auch sie war ein Mensch, den man lieben musste, bei Alma hat man diese Liebe gleich gespürt, weil einem immer das Herz vor Glück klopfte, weil es ein Geschenk war, bei ihr sein und mit ihr reden zu dürfen. Meine Mutter hat sie besonders gern gehabt, schon als Kind war sie so umsichtig, ihr immer eine Flasche Milch aus dem Genossenschaftsladen an der Ecke mitzubringen, sie fragte nicht einmal. Mutter erzählt, dass Alma jetzt in Paris ist, irgendwo im Zehnten Arrondissement. Sie ist bei Verwandten untergekommen. Die schöne Alma ist also ganz in meiner Nähe. Auf einmal wird mir schwindelig. Vielleicht, geht es mir durch den Kopf, saß ich kürzlich mit Alma in der Métro. Vielleicht im selben Kino. Vielleicht in meinem Stammcafé. Vor ein paar Tagen. Vielleicht lasen wir dieselbe Zeitung. Vielleicht hat Arik sie so angesprochen, wie er mich angesprochen hat, genauso zielgerichtet und mit dieser Stimme wie aus einem unbekannten Himmel, fern und nah zugleich, ein Versprechen – aber welcher Art? Vielleicht hat auch sie gehorsam genickt. Es ist möglich. Er hat tatsächlich diesen Riecher für Menschen auf der Kippe. Mischa Weisband hat mich auf diesen Gedanken gebracht, er hat recht, wenn er sagt, dass Arik etwas über den Abgrund weiß, über das Dazwischen, die Durchreise. Arik hat eine Menge vor, immer plant er etwas. Er hat mir erzählt, dass er in die belagerte Stadt will. Er ist Maler. Susan Sontag und Joan Baez waren auch schon da. Sagt er. Als müsse man daraus folgern, dass nun er und jeder Vorstadtfotograf an der Reihe sei, zu den Menschen in der belagerten Stadt zu fahren. Diese Folgerichtigkeit in seinem Kopf ist das Erste, was mich innerlich attackiert. Ich spüre ein Kribbeln in meinem Hinterkopf. In meinen Ohren surrt es, an den Schläfen ist wieder dieser überbordende Druck zu spüren, der den Kopf ringartig umkreist. In der Stirn schließt sich etwas kurz. Ein Picken zwischen meinen Augen. Der Specht pickt am Baum. Die Spatzen picken in den Beeten. Die Stare picken Kirschen. Und wer pickt in meiner Stirn? Mit irgendeinem französisch-deutschen Kulturprotestteam will er in die belagerte Stadt fliegen. Ein Fernsehteam kommt mit, er ist bekannt für solche Aktionen. Die meisten französischen Zeitungen kaufen seine Fotos. Er macht Fotos vor Ort und dann malt er sie nach, so entstehen seine Bilder. Er braucht immer Vorlagen, unzählige Bilder, die ihm das letzte Bild, das, was er dann mit seiner Hand malt, ermöglichen. Arik will ein guter Mensch sein. Wie alle guten Menschen meint er das ganz ernst. Er will von Paris aus schon etwas tun, etwas ausrichten, nützlich sein. Das Vorhaben klingt in meinen Ohren wie eine von Hiromis unzähligen, rührenden Petitionen, die auf dem Küchentisch neben dem ABC der Wirbellosen , den Hannah-Arendt-Büchern und den schönen Stoffen aus einer Manufaktur von Jouy-en-Josas herumliegen. Ständig will Hiromi etwas aus der Welt der Insekten retten. Die Bienen zum Beispiel. Oder Bewusstsein schaffen für Termiten. Natürlich auch für Ameisen. Die Behausung der Ameisen, die Behausung der Termiten. Wir müssen in menschlichen Maßstäben denken! So etwas steht auf ihren Petitionen, die sie vor den Kaufhäusern oder an belebten Brücken wie der Pont des Arts austeilt, wo sie mit dem Fahrrad hinfährt und die Leute abfängt, die an den Nachmittagen in den Louvre wollen. Es sind Petitionen, die es nur im Frieden gibt. Das weiß Hiromi. Ich muss das machen, erklärt sie beiläufig. Ich nicke, verstehe, dass sie sich über die Dimensionen ihres Aufbäumens im Klaren ist, dass sie genau weiß, was sie tut. Wir müssen die Bienen und die Termiten retten! Wir müssen uns ihrer Architektur mit menschlichen Maßstäben nähern, sonst werden wir die Mannigfaltigkeit ihrer Kreativität nie verstehen! Unterschreiben Sie! Unterschreiben Sie, meine Damen und Herren! Und während ich Hiromis Sätze lese, vermischen sie sich mit jenen, die wir
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