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Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)

Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)

Titel: Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marica Bodrožić
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Mutter und Vater teilen. Noch lebt mein Vater. Noch könnte ich ihn sehen und wenigstens zum Abschied umarmen. Aber das wird mir, das wird uns beiden nicht gewährt. Nichts kann ich mehr mit meinem Vater, nichts mit meiner Mutter teilen. Ein Satellitentelefon ist unser einziges Kommunikationsmittel. Wenn wir es schaffen, einander zu erreichen, sagt Mutter, dass unsere muslimischen Nachbarskinder in der Schule von den christlichen Mitschülern, die jetzt meinen, etwas Besseres zu sein, jeden Tag abgefangen werden. Ein neuer Ton zieht in die Schulflure ein. Die zehnjährige Ajla hat meiner Mutter erzählt, was in der Schule Tag für Tag los ist. Am Schultor müssen sie einem christlichen Jungen ihre Namen nennen. Er kennt sie seit Jahren, er kennt auch ihre Namen. Früher war das Kontrollkind schüchtern und stotterte ein wenig. Jetzt ist es mutig. Es erfüllt seine Pflicht. Es ist ein Kontrollkind geworden, das eifrig die Christen durchwinkt. Die Muslime dürfen den Schulhof nicht betreten. Ajla heißt du? Du bist eine ganz Schlaue! Du, Ajla, hau ab, ja?, Muslime kommen heute nicht rein. Das ging ein paar Tage so. Bis es eine serbische Lehrerin unterbunden hat. Und das Christenkind, das tagelang ein unbehelligtes, mutiges und von seiner Clique bewundertes Kontrollkind war, hat eine saftige Ohrfeige bekommen. Danach konnte Ajla wieder am Schulunterricht teilnehmen. Was aus dem Kontrollkind geworden ist, weiß meine Mutter nicht. Nach der Geschichte mit Ajla hält sie plötzlich inne. Sie hat sich so in ihren Bericht hineingesteigert, dass sie mit einem Mal nicht mehr weiß, was sie noch erzählen soll. Sie sagt immer nur, es ist schlimm, sie bringen die Menschen alle wie Ratten um. Das hört sich an, als sähe sie für sich selbst keinerlei Gefahr und bange nur um das Leben ihrer Mitmenschen. Wie geht es dir denn, frage ich sie, aber dann bricht die Leitung zusammen. Sie ruft noch einmal an. Es klappt. Sie ist durchgekommen. Sie atmet schwer. Sie wird nie wieder ohne Angst atmen können. Ich lerne in diesem Moment körperlich, dass ich mein Leben nicht teilen kann, dass es schrecklich ist, es nur für mich zu haben. Und es behalten zu müssen. Und ohne die anderen weiterzuleben.
    1425 Tage dauert die Belagerung, es ist die längste des 20. Jahrhunderts. Es fallen Granaten. Durchschnittlich 329 pro Tag. Das macht 486 825 Granaten. Das hier ist EINE STADT , ihr Hurensöhne! Wir lassen nicht zu, dass ihr einen Krieg anzettelt! Wir überlassen unsere Stadt nicht den Barbaren! Wir lieben UNSERE STADT ! Ihr elenden Barbaren! Es war auch eure Stadt! Es waren auch eure Straßen! Eure Cafés und Bars! Eure Winter! Eure Sommer! Eure Jahreszeiten! Eure Jugend! Ihr habt in unseren Gassen gesungen und geweint! Die Gassen haben eure Schritte und Küsse und Worte gespeichert! Das hier ist keine Gegend für Heckenschützen! Das hier ist EINE STADT , ihr ewig Kulturlosen, es gibt hier keinen Platz für euch!, haben die Menschen in Richtung der Berge geschrien, als der Belagerungsring zusammengezogen wurde, von Leuten, die selbst von hier stammten, die jede Ecke, jede Gasse, jeden Baum kannten – Medizinstudenten, Flötisten, Kellnern, Metzgern, Kaffeehausbesitzern, Psychologen, Imbissbudenbesitzern, Biologen, Shakespeare-Experten, Kinderbuchautoren.
    Die Berge antworten nicht. Sie haben nichts gehört. Berge haben keine Ohren. Heckenschützen hingegen haben Ohren, haben Augen. Aber sie gehören jetzt einer anderen Welt an, sie sind die Herrschenden, die ohne eine Seele auskommen. Blut ist hier das Wasser, das überall fließt. Direkt in die Erde hinein. Blut aus Kinderfüßen. Direkt in die Kartoffelwurzeln. Blut aus Männerohren. Direkt in die Weinberge. Blut aus Frauenhänden. Direkt unter die Salatwurzeln. Blut aus den Fingern Namenloser. Direkt. Direkt. Direkt. Blut aus den Fingerspitzen Liebender. Direkt in die Erde, die das Blut aufnimmt wie sie jede andere Flüssigkeit aufnimmt. Das Sämige des Blutes ist der Erde willkommen. Sie macht das Beste daraus, man sagt, dass Pflanzen, Blumen und Bäume in Kriegszeiten sehr gut wachsen. Die Heckenschützen sind die neuen Götter. Sie haben das Sagen. Die Erde gehört ihnen. Sie haben die Stadt im Visier. Nichts ist so wie es einmal war. Die zivile Ordnung ist wie ein Kartenhaus zusammengebrochen, an dessen Festigkeit, von heute aus betrachtet, nur Hirnamputierte glauben konnten. Ein Jahr später schon erscheint das Wort Zivilisation wie etwas aus einem Science-Fiction-Film, etwas, das

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