Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)
Zeit vor dem Krieg, und ich erzählte ein wenig, aber nicht alles, weil ich nicht wollte, dass er auf die Belagerung zu sprechen kam. Nach dem Chinesen gingen wir in eine Bar, in der Lieder aus den Achtzigerjahren gespielt wurden, und wir tranken dort Wein. Als wir von den Hockern aufstanden, war mir schwindlig und Arik sagte, er nehme mich jetzt zu sich nach Hause. Er reichte mir seine Hand. Wir gingen Richtung Brücke, es war, als hätte ein alt gewordener Gott meinen Körper erwählt, sich Arik zu ergeben. Der Schwindel hielt an. Das Klopfen in meiner Stirn kündigte wieder die Absencen an. Ich erinnere mich noch heute daran, dass ich versucht habe, Ariks Augen genauer zu sehen. Alles andere wackelte wie ein Testbild, aber seine Iris sah ich, sie hatte etwas mich Prüfendes. Und dann nahm ich nur noch alles verschwommen wahr, wie unter Wasser in einem Schwimmbecken, wenn ich versuchte, auf dem Rücken zu schwimmen. Ich kam nie zu meinem eigenen Rhythmus, weil die anderen Schwimmer das Wasser in Bewegung hielten. Es war spät, wir überquerten die Brücke. Die Seine schimmerte eisig zu uns herauf. Er küsste mich plötzlich mit einer Wildheit, die mir Angst machte, drängte mich an einen Pfeiler, und noch bevor ich richtig begreifen konnte, was genau vor sich ging, hatte Arik mir die Strumpfhosen und den Slip heruntergezogen, und im Stehen versuchte er, in mich einzudringen. Ein Bus und mehrere Autos fuhren vorbei, einige hupten. Erst ein paar Tage danach begriff ich plötzlich, was geschehen war. Für mich war in der Situation selbst alles ein Rätsel gewesen, ein undefinierbares und hektisches Hantieren mit Händen und Kleidern. Und dann fiel mir noch ein, dass Arik mir Komplimente wegen der Farbe meiner Strumpfhosen gemacht hatte, ein sattes Olivgrün, das ihm schon in der Bar aufgefallen war. Der vom Fluss kommende kalte Wind hatte mich schließlich aus meiner Trance gerissen. Ich versuchte, Arik von mir zu schieben. Er ließ es nicht zu, hielt mich an den Handgelenken und am Nacken fest. Unbeirrt führte er seine wuchtigen Bewegungen aus. Dann küsste er mich, küsste meinen Mund, meine Nase, meine Ohren. Du bist schön, sagte er, drückte mir einen Fünfzig-Franc-Schein in die Hand, komm morgen wieder her, lass das mit der Métro, nimm dir ein Taxi. Er hielt das nächste freie Fahrzeug an und schob mich hinein, ohne mich zu fragen. Ich zitterte. Langsam ging Arik weg, wieder in Richtung der Avenue Émile Zola. Er und sein heller Leinenanzug wurden ein Teil der alles verschluckenden Dunkelheit. Ich sah ihm eine Weile nach, sein Anzug leuchtete. Als das Taxi um die Ecke bog, wurde er ein Punkt in der Nacht und ich war wieder auf mich selbst zurückgeworfen.
Ich ging am nächsten Tag nicht zur Pont Mirabeau, wo wir uns wieder im Café Le Mars verabredet hatten. Er rief mehrmals an. Ich nahm nicht ab. Dann bereute ich es, nicht mit ihm gesprochen zu haben, und wählte seine Nummer. Jetzt nahm er nicht ab, entzog sich mir. Dann und deshalb fing das an, was ich später Ariks doppelbödige Beharrlichkeit nannte.
Ich hielt die Szene auf der Brücke für ein Missverständnis, für etwas, das er gar nicht hatte tun wollen, und deutete seine Unerreichbarkeit als Zeichen seiner Scham. Er musste sich doch schämen. Etwas anderes konnte ich mir nicht vorstellen. Hatte er meinen betrunkenen Zustand ausgenutzt? Ich würde ihn fragen, ihn darauf ansprechen müssen. Aber wie und wann? Dann überkamen mich Zweifel. Hatte ich mir im betrunkenen Zustand alles nur eingebildet? Ich hätte mich wehren können – und ich fragte mich, ob es nur der Alkohol oder eine alte Angst war, die mich davon abgehalten hatten. Merkwürdigerweise fiel mir in diesem Moment das Wort Wiederholung ein, doch fand ich nicht heraus, warum, und ich begann, mich für den Vorfall auf der Brücke zu schämen. Nadeshda fiel auf, dass mit mir etwas nicht stimmte, aber ich sagte nur, dass ich jemanden kennengelernt hätte. Hiromi erzählte ich gar nichts. Sie hatte gerade selbst Liebeskummer und war seit Monaten in eine komplizierte Dreiecksbeziehung verstrickt, mit einer Frau und einem Mann. Die beiden waren, wie sich später herausstellte, ein Paar, das sich getrennt und in der Zeit mit ihr wieder zueinander gefunden hatte. Hiromi erzählte spärlich darüber, sie hielt sich an die Fakten, aber ich bemerkte, wie ihre Ruhe, die ich für einen festen Teil ihres Wesens gehalten hatte, zerbröckelte. Irgendwann sagte sie, es sei alles vorbei. Und als ich nach
Weitere Kostenlose Bücher