Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)
dass Nadeshda zu uns ziehen sollte.
Nadeshda und ich sprachen in Paris nicht mehr über jene merkwürdige Sitzung bei Arik. Weder erwähnten wir unsere nackten Schultern noch die auf dem Boden liegenden dunkelblauen Blusen, die wir nie wieder zur gleichen Zeit trugen. Wir schwiegen uns so lange über den Vorfall aus, bis wir irgendwann das Gefühl hatten, das vergessen zu können, was uns im Atelier in der rue Fagon geschehen war. Ich wollte Arik wiedersehen, verstand aber nicht warum. Was wollte ich von ihm? Er rief nicht an. Ich wollte nicht warten, aber etwas in mir fing mit dem Warten an. Ein großer Magnet in mir wartete auf ihn und seine Zuwendung. Dieser Magnet ersetzte mich und wartete nun an meiner Stelle auf Arik. Das Warten legte sich lähmend auf meine Bildwelt. Und ich ließ mich von ihm in Beschlag nehmen, vielleicht gerade deshalb, weil ich wissen wollte, wohin es mich führen würde.
Wochenlang hörte ich nichts von Arik. Dann rief er plötzlich an und erzählte von seinem Vater, der die Familie früh verlassen und mit einer Nachbarin ein neues Leben begonnen hatte. Nun trafen wir uns fast jeden Tag, redeten, gingen spazieren, und es gelang mir nie, ihn auch nur einmal über den Vorfall auf der Brücke zur Rede zu stellen. Über das Bild und die Situation im Atelier sprach ich auch nicht. Arik war gesprächig und küsste mir zärtlich die Ohren, immer wieder die Wangen, und ich lernte an einem Sonntag in seiner Wohnung auf der Place Dauphine einen blinden Fotografen kennen. Er stammte aus Rumänien, kam mit seinem Blindenstock und hatte Fotos von den Brücken in Paris gemacht. Atemlos sah ich mir die Fotografien an und konnte nicht fassen, dass sie von einem Blinden stammten. An einem anderen Sonntag kochte Arik für mich und einen italienischen Kriegsreporter, der wiederum einen amerikanischen Übersetzer und seine schottische Frau mitbrachte. Ich lernte diese Menschen ein wenig kennen, hatte aber keine Ahnung, woher Arik sie alle kannte und wie und wann sie Teil seines Lebens geworden waren. Es fiel mir nur auf, dass sie alle aus dem Ausland stammten, kein einziger von ihnen lebte in Paris. Kurze Zeit nach dem ausgelassenen Mittagessen mit den Ausländern musste Arik plötzlich verreisen. Er rief mich an und bat mich, nach seiner Post und seinen Blumen zu schauen. Als er seine Tasche packte, dachte ich an die Brücke, dachte, dass ich jetzt etwas sagen, dass ich ihn noch vor seiner Reise darauf ansprechen musste. Doch ich brachte kein Wort heraus, weil ich mit einem Mal Angst hatte, es laut zu sagen und dabei meine eigene Stimme zu hören. Wie würde das Ganze klingen? Die Sache würde ich noch einmal für mich durchdenken – zwischen uns bestanden keine Absprachen, woher, sagte ich mir, sollte ich das Recht nehmen, ihm Vorwürfe zu machen. Und jetzt erschien mir meine eigene Wahrnehmung übertrieben, sogar pedantisch und ich dachte, dass ich in der Zwischenzeit durch mein Schweigen und das lange Überlegen unglaubwürdig geworden war, dass ich mich sogar lächerlich machen würde.
Arik überreichte mir sanft lächelnd seine Schlüssel und sagte, er hätte das seit Jahren nicht mehr getan, es sei ihm unmöglich geworden, sie einem anderen Menschen anzuvertrauen. Etwas daran und an seinem fast flehenden Gesichtsausdruck schnürten mir die Kehle zu. Zum ersten Mal spürte ich unter allen seinen Masken eine tiefe Hilflosigkeit, die mich überraschte, und ich sah sie ein weiteres Mal noch deutlicher, als ich ihn Jahre später vor seinem Herd stehend, nur mit einer Unterhose bekleidet, ertappte. Er hielt eine Flasche Schnaps in der Hand und setzte zu einem Schluck an. Ich wusste in jenem Augenblick, dass es vorbei mit uns war, dass ich ihn doch noch würde verlassen können.
Wie zufällig war ich damals vor seiner Abreise nah an sein inneres Versteck gelangt, ich hatte an etwas gerührt, das durch die Verachtung der Anderen in Selbstverachtung umsprang. Später beschrieb ich ihm einmal dieses Gefühl, das ich an der Schwelle gehabt hatte. Und er sagte sofort, ich hätte das Gesicht eines Flüchtigen gesehen, eines im Traum davonrennenden Mörders. Ein Mörder muss rennen, sagte er, verstehst du das? Es war unheimlich, dass er so etwas sagte, aber er meinte das nicht ernst, es war nur ein Traum, den er seit Jahren träumte, er war selbst dieser Mörder. Ich stotterte etwas zusammen, verwundert, dass er mir auf einmal seine Träume erzählte. Wie er denn darauf gekommen sei, mir diesen Traum zu
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