Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)
erzählen, fragte ich, aber er schwieg, küsste mich zärtlich auf die Stirn, bevor er seine braune Lederreisetasche in die Hand nahm und im Treppenhaus verschwand.
Zehn Tage lang kümmerte ich mich um seine Wohnung an der Place Dauphine. Als er zurückkam, gingen wir essen. Arik sprach über sein neues Bild und über das, was er bei Édouard Manet liebte, was er von seinem Blick auf Farben und Formen gelernt hatte. Ich nahm an, dass er irgendwo in Frankreich unterwegs gewesen war und dort über all das nachgedacht hatte. Fotos habe er auch jede Menge gemacht, sagte er, für eine Wochenzeitung werde er eine Reportage schreiben und sie dort veröffentlichen. Ganz nebenbei erwähnte er, dass er in der belagerten Stadt war, dass er dort war, wo ich zur Welt gekommen bin, dort, wo die Menschen meines Lebens Tag für Tag beim Brotkaufen und Gemüseabwiegen umkamen, während ich seine Blumen und seine Post an einem der teuersten Plätze von Paris versorgte.
Ich bekam Angst vor ihm und verließ das Restaurant, ohne ein Wort zu sagen. Als ich mich umdrehte, sah ich, dass er sich noch ein Getränk bestellte. Seine Kälte versetzte mir einen nachhaltigen Stich, in jenem Moment hasste ich ihn. Stundenlang irrte ich durch die Straßen von Paris. Ich begriff, dass der italienische Kriegsreporter mit ihm gereist war und das Abendessen eine Art Besprechung gewesen war. Ich hatte dabeigesessen, aber sie hatten mich nicht eingeweiht. Anderntags bekam ich unter der Dusche Krämpfe und fing an zu bluten. Als das Rot sich auf den weißen Fliesen ergoss, hielt ich mich am Duschvorhang fest. Langsam trocknete ich mich ab und zog mich an. Ich verließ die Wohnung, um mir in der Apotheke ein Schmerzmittel zu kaufen.
Ich unternahm lange Spaziergänge an der Seine, traf mich mehrmals in Meudon mit meinem Onkel Milan und meiner Tante Sof ij a. Wir sammelten Beeren und Kräuter in den Wäldern. Sie kannten seit Jahren die besten Plätze. Ich erzählte ihnen nichts von dem, was ich mit Arik erlebt hatte. Immer wieder überfiel mich ein Schwindel, der Druck in meinem Kopf nahm zu und die Lücken in meiner Erinnerung tauchten öfter auf, als wollten sie mich vor größerem Leid beschützen. Ein paar Tage später tat mir der Bauch wieder weh. Hiromi rief einen Krankenwagen. Die Ärzte waren ratlos. Sie konnten nichts finden. Ein Test ergab, dass ich höchstwahrscheinlich schwanger war. Am dritten Tag fiel ich auf dem Flur in Ohnmacht. Es hieß, ich hätte eine Eileiterschwangerschaft. Als die Ärztin mir erklärte, was passiert war, dachte ich, dass die Zellen das Gleiche mit meinem Körper gemacht hatten wie Arik mit meinem Kopf. Sie hatten sich auf einem Nebenweg in mir eingenistet, sie belagerten mich von Innen, und ich erfuhr, dass man daran sterben konnte. Ich schämte mich, Hiromi und Nadeshda erzählte ich nichts davon, und auch Arik wollte ich es nicht sagen. Ich glaube, damals entwickelte ich mein ganz eigenes System der Selbsttäuschung, das immer mit dem Wort wenn einsetzte, mit meinen Fragen und Zweifeln – wenn ich es nicht erzähle, dann ist es nicht geschehen und ich selbst werde mir eines Tages die Lüge als Wahrheit abnehmen, werde nicht mehr den Unterschied zwischen dem einen und dem anderen kennen. Vielleicht glaubte ich, mir auf diese Weise selbst entkommen zu können, aber vielleicht glaubte ich auch gar nichts, und als ich verstand, dass ich mich hätte wehren können und auch in meiner neuen Sprache, in jeder Sprache dieser Welt eine Stimme hatte, war die Geschichte mit Arik vorbei.
Zu den Vorlesungen ging ich fast gar nicht mehr. Tante Sof ij a und Onkel Milan besuchten mich manchmal in Paris. Zufällig waren sie da, als ich nach Monaten wieder einmal meine Mutter erreichte. Sie nahmen mir den Hörer ab und wollten sie überreden, die belagerte Stadt zu verlassen. Aber sie wurden genau an dieser Stelle unterbrochen und die Leitungen waren wieder für Wochen gekappt. Damals wussten wir nicht, dass es gar keinen Weg mehr aus der Stadt heraus gab. Zum ersten Mal seit Kriegsausbruch war ich froh, nicht mit meiner Mutter reden zu müssen. Mit Mischa Weisband traf ich mich jeden Tag an der Bastille. In Sophies kleinem Restaurant gab es eine winzige Speisekarte, und es machte uns nichts aus, uns täglich zwischen zwei Gerichten zu entscheiden. Das Übermaß an Auswahl überforderte mich in Paris ansonsten die ganze Zeit. Dora kam auch manchmal zu unserem Mittagessen dazu, und die beiden erzählten mir aus ihrem Leben, aus der
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