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Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)

Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)

Titel: Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marica Bodrožić
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erlernen müssen? Aber was trennt mich von dem einen, was verbindet mich mit dem anderen Wort? Ist es etwas, das mit einer Urschicht der Töne gekoppelt ist? Und warum hören sie nicht alle Menschen, alle Tage, ihr Leben lang? Das alte Archiv der Wörter, dem meine Abkehr egal war? Stimmen geliebter und ungeliebter Menschen. Sie sind auch da. Aber was heißt das genau? Ist es überhaupt möglich, sich an Stimmen aus der Vergangenheit zu erinnern? Vor ein paar Tagen war ich mir ganz sicher, dass das geht, dass es nie vorbei sein wird, weil die Erinnerung eine solche Lücke niemals zulassen würde. Aber ich weiß nicht einmal mehr, wie sich meine Brüder angehört haben, und wie meine eigene Stimme als Kind klang, welche Farbe Ariks Stimme hatte, wenn ich bei ihm war. Und wie mochte Hiromis Stimme jetzt klingen, wenn sie nur noch Japanisch sprach? Hiromi, die mich in ihrer Güte nicht nach dem Krankenhausaufenthalt ausfragte, die mir einfach zuhörte. Stimmen, diese wandlungsfähigen Rätsel, woher kommen sie eigentlich? Manchmal sehe ich einen Menschen an, und ich höre seine Stimme, und sein Mund bewegt sich verlangsamt, und sein Gesicht sieht aus wie ferngesteuert.
    Ein weit größeres Rätsel sind aber immer die Stimmen von früher. Das Ohr verweigert sie mir. Es kennt keine Grammatik. Das Geräusch des Meeres legt sich über die Syntax. Wie oft ist etwas in meinem Leben vorübergegangen? Wie viele Menschen habe ich bisher kennengelernt? Wie viele von ihnen erinnern sich an mich, an ein Lächeln von mir, an einem Sommertag, in einer Nacht? Wie viele Küsse habe ich anderen gegeben? Wie viele Umarmungen habe ich zugelassen? Wie viele Fingerkuppen habe ich betrachtet? Wie viele Ohren? Augen? Münder? Wie viele Briefe habe ich erhalten, wie viele habe ich geschrieben? Wie oft habe ich Mischa Weisband, meiner Tante Mila, meiner Tante Sof ij a, meinem Onkel Milan Glück geschenkt? Wie oft habe ich Hiromi zum Lachen gebracht? Wie viele Beziehungen habe ich verabschiedet? Wie oft habe ich mit Menschen gebrochen? Wie viele Male war ich mein eigener Prinz Jussuf von Theben? Wie viele Lieder habe ich für andere gesungen? Wie viele Tische waren mein Eigentum, das Eigentum meiner Familie? Wie viele Liebesbriefe habe ich geschrieben? Wie viele Briefkästen in wie vielen Städten und Ländern waren mit meinem Namen beschriftet? In wie vielen Sprachen habe ich von Berührungen geträumt? (Von Nähe und Hunger, von Sex und Liebe.) Wie viele Seen habe ich schon aus der Ferne entdeckt? In wie viele Flüsse bin ich getaucht? Wie oft bin ich gegen den Strom geschwommen; in einem Fluss; im Leben? Wie vielen Menschen habe ich Pflege in Krankheit und Not versprochen? Wie viele dieser Versprechen habe ich gehalten? Wie viele Bücher haben mein Leben verändert? Wie viele Worte habe ich mir ausgedacht, um anderen etwas zu sagen, das ihnen keiner vor mir und keiner so gesagt hat wie ich? Wie viele Städte habe ich allein besucht? Wie viele mit einem anderen Menschen? Kann ich mich an die Falten um Mund und Augen meiner Großmutter aus Istrien erinnern? Habe ich je etwas von ihrem Kummer mitbekommen? Konnte ich ihre Falten jemals zählen? Oder habe ich sie immer nur als etwas Ganzes, als einen Teil ihres Lächelns, ihrer Lächelgewohnheiten gesehen? Oder habe ich es doch getan, als Kind, und kann mich nur nicht mehr erinnern, was meine Zählung ergab? Warum habe ich mich nie bei meiner Mutter beschwert, warum habe ich ihr nie widersprochen und Vater meine Kleider abnicken lassen? Warum war ich ihre Puppe und habe doch selbst nie mit Puppen gespielt? Und warum fällt es mir schwer, mich an meine eigene Feigheit zu erinnern, an Dinge in der klaffenden Lücke, die ich nie aussprechen werde, da die Zeit für sie für immer vorbei ist? Wie oft habe ich als Mädchen überhaupt gelacht?
    Es gibt die Fotos. Sie beweisen das mit dem Auge gelebte Leben. Oder sind Fotos nur Lückenfüller für ein Gedächtnis, auf das wir uns alle einmal geeinigt haben? Und das ausgelegt ist mit vielfältigen Gerüchen, die vom Wesentlichen ablenken? Schafgarbe, Lavendel, Bockshornklee, Blüten, Blüten, Blüten – in Istrien. Ein für allemal sind sie unterwandert von Klängen erster Chansons, Lieder, Geburtstagsständchen – wie also an den Grund kommen? Wie der Zählung der Sanduhr entkommen? Das Rieseln verbirgt sich in allem. Die Uhrzeiger gehen mit. Tick. Tack. Tack. Tick. Matzel. Matzel. Schlafsand in meinen Augen. Ein Stein fällt in eine Zisterne, die

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