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Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)

Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)

Titel: Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marica Bodrožić
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muss, längst in Sicherheit bin. Diesen Gedanken hatte ich schon einmal in Paris, er kam mir kurz nach Silvas Abreise. Ich ging in diesen Tagen wieder mehr mit Mischa Weisband spazieren. Wir sprachen über Silva, und ich erzählte ihm von den Erlebnissen in den Donau-Auen, von jenem Augenblick des angehaltenen Atems, den sie nie vergessen konnte. Ich weiß, wie es ist, wenn einem der Atem stockt. Jahrelang hat er sich an meinen Stimmbändern gerieben. Mischa sagte, dass wir viel über einen Menschen erfahren können, wenn wir wahrnehmen, auf welche Weise er atmet. Er war überzeugt davon, dass jeder Mensch, den wir treffen, auf eine geheimnisvolle Art ein innerer Teil von uns selbst ist. Mit dem Atem sind wir verbunden, von ihm getragen, weil es nur eine Luft gibt, nur die eine Quelle, aus der wir versorgt werden. Wer bin ich ohne die Quelle, aus der alles kommt? Wer bin ich ohne die anderen? Niemand. Es gibt mich nur so, in einem Zusammenhang mit Menschen, Orten und Landschaften. Aber damals hatte mir Mischas Aussage Angst gemacht. Er sagte, die Spiegel machen dich nicht austauschbar, im Gegenteil, sie machen dich unverwechselbar. Ich glaube nicht, dass ich das in jenen Tagen verstanden habe. Vielleicht war auch mein Fehler, dass ich immer alles durchdenken wollte und davon überzeugt war, über das Denken an eine auf Dauer sättigende Wahrheit zu kommen. Aber lebte ich so? Nein. Ich ließ mich am wenigsten von meinem Kopf leiten. Es war immer mein Körper, der mich in Situationen brachte, aus denen es kein Entkommen mehr gab. Mein Kopf hat Arik abgelehnt. Und meinem Körper ist es zu verdanken, dass ich die Welt nicht mehr in Gut und Böse aufteile. Es stimmt, was Mischa Weisband sagt, niemand kann es fassen, dieses Herz hinter der versteckten Naht. Als mein alter Freund das Geheimherz erwähnte, nannte ich ihn einen Dichter. Nein, sagte er mit schelmisch blitzenden Augen, er sei kein Dichter, sondern ein Dieb, das habe einmal einer seiner Lieblingsschriftsteller gesagt. Schelmisch lächle ich jetzt, in Erinnerung an ihn fällt mir ein, dass mich damals nichts so beeindruckt hat wie Mischas Satz von den zubeißenden Gedanken: Ich will keine zubeißenden Gedanken mehr, ich will Gedanken, die den Atem erleichtern. Vielleicht hat er auch das von seinem Lieblingsschriftsteller gestohlen? Bis heute liebe ich Mischa für seine Fähigkeit, die Dinge nicht zu ernst zu nehmen und genau daraus die Leichtigkeit für das Wichtige zu ziehen. Er ist das Gegenteil eines gleichgültigen Menschen. Und Arik? Es war vielleicht gerade seine Gleichgültigkeit, die mich und Nadeshda ansprach, wir wollten seine Kruste aufbrechen, sie berühren, ihn aufrühren. Wie viel Aufmerksamkeit aber verdient Arik noch? Das hat Mischa Weisband mich immer wieder gefragt, wenn meine Gedanken um die Zeit an der Place Dauphine kreisten. Er wartete meine Antwort nicht ab. Gar keine, sagte er. Nadeshda ist hier, sie ist deine Freundin, sie ist es trotz allem immer gewesen. Er sprach, wie es seine Art war, ganz langsam, als hätte nichts Eile, nichts eine Dringlichkeit, als sei für alles Zeit genug.
    Das Vögelchenzimmer muss gestrichen werden, in einem ganz hellen Blau. Vielleicht hilft mir das Blau, zu neuem Atem zu finden. Die Gedanken kennen keine Zeit. Mein Gedächtnis springt mich wie ein wildes Tier an. Es kommt mir im leeren Zimmer wie ein uraltes Gefängnis vor, das alle seine Zellen zeitgleich öffnet, die Gedanken reiten auf unzähmbaren Pferden davon. Sie gehören mir nicht. Die Pferde. Die Gedanken. Die Atmung stockt. Es ist mir unmöglich, hier nur zu sitzen, wenn die weißen Wände mich wie die Ewigkeit anstarren. Das Weiß blendet mich, es kommt meinem Denken und meinem Abschied vom Denken wieder und wieder dazwischen. Ich muss das Zimmer blau anmalen. Nadeshda hat versprochen, Farbe zu besorgen. Das war von Beginn an ihre Aufgabe – Farbe in meinen Alltag zu bringen. Sie ist immer das hellere Leben. Sie kann über alles reden. Über das Vergessen. Und über das Erinnern. Nadeshda kann alles von Innen ins Außen hinüberretten, ohne es durch Worte zu zerstören. Im Gegenteil, manchmal habe ich bei Nadeshda das Gefühl, dass ihre Sätze kleine Rettungsanker und Vorratslager für ihren inneren Frieden sind. Sie setzt ihre Kommas und Punkte so, dass sie jeden kleinen Kranken mit ihrer Syntax heilen kann. Ihr eigener Atem. Sie hat ihn gefunden. Seitdem sie Ilja verlassen hat und sie ihr Kind aufzieht, ist sie noch schöner geworden. Für

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