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Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)

Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)

Titel: Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marica Bodrožić
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Nadeshda ist die Sprache das, was für mich mein leeres Zimmer ist. Meine Rettung kommt nicht durch die Sprache. Anfangs tat mir im Vogelzimmer jeder erinnerte und erinnernde Satz körperlich weh. Und jetzt, wenn alles still ist, überfällt mich die Wucht der Imagination. Der neue Atem führt zu neuen Fragen. Die vergangenen Tage brechen aus den Gefängniszellen meines Kopfes aus, schieben den neuen Atem an, schlittern aus dem Gedächtnis in meine Stirn und direkt in mein Denken hinein. Es pocht in der Stirn, in dem Kopf, an den Schläfen. Das Pochen wird immer lauter. Ich wehre mich, so gut ich kann, ich will mich aufbäumen gegen das alte Picken. Jeden Tag, alle Tage – die Angst überwinden. Die Aussetzer. Die Lücken. Aber der geübte Vogel pickt in meiner Stirn, pickt nach den Samenkörnern meines Lebens. Ich werde die Türen offen halten. Ich werde die dunklen Zimmer nicht schließen. Ich werde hier, in dieser neuen Wohnung, in diesen neuen Räumen das Sehen erlernen. Mischa und Nadeshda sagen, dass das Sehen alles ändert. Sie beim Wort nehmen, das will ich tun. Ich mache die Augen zu, das Vögelchenzimmer habe ich gerade geputzt. Es ist friedlich in meinem Kopf. Das Picken kommt wieder. Ich spüre, wie es sich in mein Denken drängt, mich zwingen will, den Lücken auszuweichen. Menschengesichter, ich sehe sie, alle, die mir einmal begegnet sind, wie viele werden es gewesen sein? Ich versuche, sie zu zählen. In der Schulzeit bleibe ich stecken. Zu viele Menschen. Gesichter aus der Kindheit und Jugend, Gesichter aus Paris. Ihre Körper erscheinen vor meinem inneren Auge, ihre Geschichten, all die kleinen Dinge, Sätze und Situationen, die mich mit ihnen verbunden oder von ihnen getrennt haben. Sogar der Club der Visionäre taucht auf. Zoki Zaritsch, der auf seine Greencard verzichtete, um in den Kampf zu ziehen, ich sehe ihn vor mir, mit erhobener Hand lobt er den Großen Meister, einen Regisseur, dessen Filme er anpries und der eine Vorliebe für Diktatoren hatte. Und Silva, die jetzt in einem Restaurant in Saint Louis für hungrige Amerikaner kocht, sie fällt mir auch immer wieder ein. Ich sitze da und schaue dem Gefängnis in meinem Kopf zu. Ich mache die Augen auf. Und wieder zu. Das Vögelchenzimmer ist da. Es wird bleiben. Diese beruhigende Leere wird mich jeden Morgen begrüßen. Ich spüre das Gewicht, das die Bilder in mir hinterlassen haben, und stelle mir vor, dass ich sie alle in Koffer packe. Sie verstaue. Ich werde wieder und wieder in jeden Koffer hineinsehen. Und mir überlegen, ob ich all das, was sich in ihnen verbirgt, noch brauche. Vielleicht sehe ich zum ersten Mal alles so genau, weil es still ist, weil ich noch nie eine solche Stille erlebt habe, weil in den letzten zwanzig Jahren alles um mich herum laut war. Der Abschied. Die Belagerung meiner Geburtsstadt. Der Tod meines Vaters. Der unaussprechbare Tod. Sein Tod. Ich kann nie über ihn reden. Jedes Mal, wenn ich es versuche, verschlägt es mir die Sprache. Und der Tod meiner Brüder. Mein Weiterleben. Das Absterben der eigenen Kindheit. Und Jugend. Und der ersten Liebe. Ilja, der mir den ersten Kuss meines Lebens gab, dieses Lebens, das ein Leben im Frieden war. Die Synagoge. Iljas Geschenke, die Murmeln. Und dann, am Ende, mit Vehemenz, auch das vorläufige Absterben der ersten Wörter, Sätze, der Sprache, die sich zurückgebildet hat wie ein Mensch, der im Alter immer kleiner wird. Nur die Ohren wachsen weiter. Was ist vom alten Steigbügel, Hammer und Amboss übrig? Erst war es leicht gewesen. Ich konnte ohne das Gedächtnis der erstbenutzten Wörter leben. Ohne ihre Archive kam ich gut aus, konnte weiteratmen, auf Bedeutungen verweisen, die jetzt ohne mich auskamen, so wie die deutschen Wörter lange Zeit ohne Mischa Weisband und seine alten Erinnerungen ausgekommen waren.
    Neulich im Supermarkt hat mich ein altes Wort hinterrücks überfallen. Es war einfach da, hatte sich nach vorne gedrängt, seine Schichten von Staub hatte das Wort abgeschüttelt und mich überrascht. Kurz darauf konnte ich ein paar Adjektive nicht mehr erinnern, was ein Zittern in mir auslöste, eine neue Lücke entstand, und ich bekam ungeheure Angst vor dem Vergessen. Und das Zittern legte sich über meine neuen Sprachen, es legte sich einfach quer, alles war mir entfallen.
    Der Vorfall im Supermarkt hatte mir gezeigt, wie wenig es brauchte, in den Sog des Vergessens zu geraten. War es das, was Nadeshda meinte, als sie sagte, dass wir das Vergessen

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