Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)
Glocken läuten, ein Kind schreit um sein Seelenleben (bin ich dieses Kind, das schreit und das von niemandem gehört wird?). Eine Hand gibt ihm eine Ohrfeige; erfolgreich, seine Tränen sterben. Nur ein Hund ist Zeuge. Stumm. Und wenn er sprechen könnte, würde er nicht reden. Schicksalsnähte entstehen immer in Abschieden. Der Hund läuft über die Straße. Die Luft surrt vor Insekten. Reifen quietschen. Hochsommer. Stechende Hitze, die Heimat der Schlangen. Erinnerung und Gegenwart. Erweckungen. Tarnungen. Verdunkelungen. Raum für Raum ein neues Leben, ein Unterleben. Das Vögelchenzimmer muss mein Helfer werden. Die Klänge sortieren im Zurückdenken ihre Bedeutungen. Ein stark abgekühltes Denken überkommt mich und mit ihm der Wunsch, die Bilder doch für alle Zeiten zu ersticken. Warum? Als Antwort fällt mir nur eine andere Frage ein: Wozu noch Satzzeichen, wenn wir doch am Ende ins Vergessen driften?
Das Vergessen hat ein Tempo. Die Satzzeichen sind Brücken. Ruhige Vögel. Auf einem Ast sitzend. So wie ich in meinem leeren Zimmer auf dem Boden. In der Stadt, im Dachgiebel singen die Vögel. Sie wünschen sich nichts. Oder doch? Sie zwitschern so laut, dass es zwecklos nicht sein kann. Aber warum zwitschern sie? Was sagen sie? Meisen. Amseln. Rotkehlchen. Feldlerchen. Zaunkönige. Singdrossel. Bachstelze. Zilpzalp. Hier ist mein Revier. Das sagen sie, in den frühen Morgenstunden, wenn wir noch schlafen, wenn wir noch träumen, anderswo sind und Ausschau halten nach einem anderen Leben, auf einem anderen Planeten, Traum für Traum. Die Vögel besprechen ihren Ort, sagt Mischa. Und im Frühling beherrschen sie noch immer nicht die Syntax der Menschen, aber sie singen sich ihre Vogelhochzeit ohne Diskussionen herbei. Vielleicht sind unsere Satzzeichen die Pausen auf dem Weg zu einem ureigenen Atem, der direkt hinter den Stimmbändern auf uns wartet. Im Anfang. War das Wort. Das uns alle beschützte. Vor der Unermesslichkeit der Welt ist nur im Anfang Rettung. Wenn wir den Anfang verraten, sind wir verloren. Das Ende schließt sich im Kreis. Wird zum Beginn. Und auch das Wetter kommt und geht. Aber das Licht bleibt. In der Kammer, die meine Erinnerung ist, wird es hell, weiß, weit und leise. Der Baum wächst nach oben. Aber auch nach unten. So bin ich dem Sommer und seiner Güte anheimgegeben. Eingestillt. Das Atmen wird leichter.
Das neue Leben wartet nicht in der Vergangenheit. Die Zeit, sie ist eine Kofferträgerin, eine Freundin also, dieses Mal. Der Weg führt ins Ungewisse. Es wächst bei jedem Vergehen immer noch der Baum in die Zukunft, wir wissen es, nichts wird bleiben und alles wird bestehen. Ins Unsichtbare hinein gehen die wissenden Schritte. Die Dielen leuchten honigfarben. Ich bin am Leben. Ich bin. Komm mit, die Zukunft wartet. Sie ist da. Überall. Hinter dem Gatter der Kindheit und an einer Brücke über der Seine, unter einem Maulbeerbaum in Charlottenburg, in deiner Küche, am alten Kirschholztisch, auf dem Balkon, unter den forschenden Blicken der eiligen Schwalben.
vierter tag
Heute musste ich weinen. Unten, auf der Straße. Vor allen anderen Leuten, die auch da standen. Ich war die einzige. Nicht einmal die Besitzerin des kleinen Hundes ließ sich dazu verleiten. Zum ersten Mal seit Jahren flossen mir die Tränen die Wangen hinunter, ohne dass ich irgendetwas tun konnte. Als ich den Hund sah, musste ich an Arik denken, an den Abschied, der mir selbst nach dem ersten Krankenhausaufenthalt und der Sache mit dem Umschlag nicht gelungen war. Irgendwann bin ich dennoch zu ihm gezogen. Die meisten Sachen ließ ich aber bei Hiromi und übernachtete auch zwischendurch immer wieder bei ihr. An der Place Dauphine lebte ich in Ariks Räumen, die voll mit seinen Dingen, Büchern, Erinnerungen, Postkarten waren. Ich sah mir nichts genauer an, aber es war nicht zu übersehen, dass kein Platz für mich und meine Dinge war. Ein paar Wochen später räumte er ein Zimmer mit Blick auf die Seine für mich. Und zwei Jahre lang wohnten wir zusammen. Immer wieder verschwand Arik für ein paar Tage, flüchtete sich aufs Land, kam dann unangekündigt und glücklich zurück. Und wenn er da war, schliefen wir wie Kinder zusammen auf dem Teppich in der Sonne ein, Arm in Arm, gingen auf den Markt, kauften viel zu süße Marmelade und fuhren an den Wochenenden in die Bretagne, ans Meer, wo Arik eine Wohnung gekauft hatte. Eines Tages brachte er einen Hund mit und wir lernten auf den Spaziergängen mit ihm alle
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