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Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)

Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)

Titel: Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marica Bodrožić
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Beiläufigkeit, mit der er Dinge tat oder unterließ, sagte oder verschwieg.
    Den Umschlag mit dem Geld hatte er mir an jenem Nachmittag heimlich in die Handtasche gesteckt, und als ich ihn Monate später in einem Seitenfach entdeckte, war Arik wieder aufs Land verschwunden. An den Markthallen von Châtelet traf ich auf eine Wahrsagerin, die mir die Zukunft vorhersagen wollte. Na gut, dachte ich, was soll schon schiefgehen, vielleicht habe ich gar keine. Über Wahrsagerinnen hatte ich immer nur gelacht, doch dieses Mal interessierte es mich, was die Frau zu sagen hatte. Und als sie die belagerte Stadt erwähnte und seine Wohnung an der Place Dauphine beschrieb, von einem medizinischen Notfall sprach und von einem Mädchen, das ich eines Tages zur Welt bringen würde, unterbrach ich sie und stand auf. Sie verlangte Geld und drohte, mich zu verfluchen, schließlich habe sie in meine abgründige Seele, in ihre Spiegel und Böden schauen müssen. Ich zitterte, sie hatte es geschafft, mir Angst zu machen. Ihr großer Mund kam mir noch größer vor, schien zu wachsen, machte mir Vorwürfe. Sie habe ihre Arbeit gut gemacht. Die sei über alle Maßen anstrengend. Ich beschloss, ihr fünfzig Francs für ihren Monolog zu geben, er hatte acht Minuten gedauert, das schien mir eine angemessene Bezahlung. Ich wollte sie endlich loswerden. Der Schlund schimpfte laut auf mich ein und begann, ja, ich hatte richtig gehört – mich nun scharf zu verfluchen. Ich drückte ihr hundert Francs in die Hand, was dazu führte, dass sie mich auslachte und in drei zukünftige Generationen hinein verdammte. Ob ich denn für immer mein Unglück besiegeln, sie beleidigen, mich auf Kosten anderer Menschen bereichern und mein Geld wie eingelegtes Sauerkraut horten wolle, rief sie, ließ nicht locker, überhäufte mich mit Flüchen. Nach einer Viertelstunde hatte sie mir zweitausend Francs aus der Tasche gezogen. Zu Hause sah ich in den Umschlag. Es waren noch tausend Francs drin. Als ich später Arik traf, war ich geradezu dankbar für die Ruhe, die er ausstrahlte. Ich lehnte mich an seine Schulter und sagte nichts, roch das Waschpulver an seinem Pullover und wünschte mir mehr von dieser Art Frieden.
    Jetzt, da ich zurückschaue, fällt mir auf, dass Arik die Ruhe und das Schweigen wie die Aureole eines Heiligen mit sich herumtrug. Niemand durfte ihm zu nahe kommen. Er hat uns eine Haltung wie in der Kirche abverlangt, meint Nadeshda, wenn man Kind ist, ergeben betet und immer einen gebotenen Abstand zum Heiligen hält. Dabei heißt es doch, dass Vater und Sohn eins sind. Seine sakrale Aura wollte aber Arik gar nicht schützen, nur den Mann unter ihr verstecken, der er war: einer, der in Unterwäsche Schnaps aus der Flasche trank. Ich war der genügsame Fisch, der ganz von alleine in sein Netz gehen wollte. Arik verschwand manchmal, ohne sich zu verabschieden. Einmal kehrte er sogar erst nach zwei Monaten zurück und dann kaufte er mir als erstes eine weiche Daunendecke. Er wusste, dass ich nie eine richtig warme besessen hatte. Er war in das teuerste Kaufhaus gegangen und man hatte ihm gesagt, es sei die derzeit beste Decke, die man in ganz Frankreich bekommen könne. Ich war glücklich. Arik sagte, du wirst nie wieder frieren. Damit hatte er sogar recht, aber das lag nicht an der Decke. Sie hat es nicht mit mir nach Berlin geschafft. Ich habe mir eine neue gekauft. Deutsche Decken sind nicht nur genauso warm, sie sind sogar schadstoffgeprüft. Hier gibt es ein Amt, das die hormonellen Auswirkungen von Schadstoffen untersucht. Die neue Decke habe ich sofort ausgepackt. Die ersten Nächte waren aber viel zu warm, und ich habe ein Laken benutzt, wie im Süden.
    Auf meinem Küchentisch liegt eine Tageszeitung. Auf der ersten Seite steht, dass Deutschland fünfhundert Euro im Monat für einen Grundschüler und dreitausend für einen Straftäter ausgibt. Ich lege die Zeitung weg und gehe ins leere Zimmer. Etwas in mir verlangsamt sich beim Atmen. Was wohl die Vögel sehen, wenn sie etwas in den Blick nehmen? Ob es einen Unterschied macht, wenn sie auf echte oder nur aufgemalte Reben zufliegen? Vor dem Fenster fliegen die beiden Elstern vorbei. Ich denke zum ersten Mal, dass sie endgültig vorbei ist, die Zeit, in der ich Heimat nur aus dem Koffer kannte. Seit Jahren atme ich nur, um zu überleben. Jetzt will ich an einem Ort bleiben. Ich spüre ihn schon, den anderen Atem. Er kommt aus der Mitte des Lebens und zeigt mir, dass ich nicht mehr davonkommen

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