Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)
ernsthaft, wie es in einem Menschenleben von einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Schmetterlingsflügel zur Aufbewahrung bestellter Menschenaugen in Formaldehyd kommen konnte. Die Biologin hätte bestimmt auch eine Nachtigall mit einem Stein erschlagen, sagte ich. Der Zeitungsartikel hatte Mischa mehr als überrascht, er war überzeugt davon gewesen, dass Magnussen schon lange nicht mehr lebte. Du kannst dir denken, sagte er, dass ich mich fragte, was das für ein Land ist, in dem ein Mensch wie sie unbehelligt leben und an einer Schule unterrichten konnte, mit in Gläsern eingelegten Augen, glücklich, mitten im Wirtschaftswunderland, in dem es von teueren Autos und beschwingten Menschen nur so wimmelte, die Urlaub in Italien und in den Schweizer Bergen machten.
Es dauerte wieder Jahre, bis Mischa seinen Koffer packte und nach Berlin fuhr. Ohne Dora hätte er es vielleicht gar nicht mehr gemacht. Nach dem Besuch der beiden bin ich immer wieder zu dem großen Maulbeerbaum im Schlosspark gegangen. Ich habe mich an ihn gelehnt und die Spaziergänger im Park beobachtet. Jedes Mal kam mir der Gedanke, dass unter der äußeren Zeit, in der wir alle leben, eine andere Zeit wie eine unsichtbare Schnur verläuft und dass dort alles, was Mischa erlebt hat, immer noch da ist, als Schattenhälfte einer Wahrheit über uns Menschen, die niemand mehr sieht, obwohl jeder vorgibt, sich zu erinnern und etwas dazu sagen zu können.
Die Vögel zwitschern seit heute morgen besonders laut. Ich bin früh aufgestanden. Alles war still, sogar das leise Rauschen der Birken im Hof habe ich Baum für Baum gehört. Von meinem Küchentisch sah ich im Laufe des Morgens in den Wipfeln der Birken einen Erlenzeisig, einen Neuntöter, einen Grünfinken und vielleicht auch einen Girlitz. Seit ein paar Tagen benutze ich das uralte Vogelbestimmungsbuch, das Mischa Weisband in seiner Kindheit zum Geburtstag bekommen und mir in Paris nach dem Tag in Bièvres geschenkt hat. Ich schlage jetzt darin fast jeden Morgen die Vögel vor meinem Fenster nach. Der Girlitz, wenn es denn einer war, ist zu schnell weggeflogen, ich werde morgen früher aufstehen und auf ihn warten. In Mischas Bestimmungsbuch steht, dass der Girlitz Serinus serinus heißt, ein grün-gelber Singvogel, Familie der Finken. Ich habe meinen Zeichentisch in meinem Arbeitszimmer aufgestellt. Der Raum sieht schon so lebendig aus, als sei er seit langem Teil meines Lebens. Hier werde ich die Kleider für meine Arbeit am Theater entwerfen, es sollen Kostüme für ein modernes Stück entstehen. Die verantwortliche Kostümbildnerin lässt mich zu Hause autonom arbeiten. Es macht mir Spaß, weil ich weiß, dass die Schauspieler alles wieder zerreißen werden. Und doch muss auch die kleinste Naht ordentlich sein. Aber ich will auch Kleider für Nadeshda entwerfen. Sie hat mir versprochen, hier in Berlin wie damals in Paris Modell zu stehen. Neue Röcke und Mäntel habe ich schon im Kopf, sie sind mir in Gedanken an sie eingefallen. Ein junger Regisseur will für ein Festival Die letzten Tage der Menschheit von Karl Kraus in voller Länge aufführen. Das Stück ist noch nie von Anfang bis Ende inszeniert worden. Nun soll es an zehn Abenden auf der Bühne der deutschen Hauptstadt zu sehen sein. Ein Großauftrag für dich, sagt Nadeshda, was willst du mehr – zwei Jahre Arbeit und ein gesichertes Einkommen! Den einen beschert der Krieg neue Turnschuhe, den anderen den Tod und mir also ein gesichertes Einkommen für die nächsten zwei Jahre, sagte ich, und Nadeshda steckte sich lächelnd eine Zigarette an. Ich kann mir für diese Arbeit Zeit lassen, ich muss mich nicht beeilen. Meine Mutter hat sich für den nächsten Monat angekündigt, das ist eine Neuerung – seitdem sie eine E-Mail-Adresse hat, sucht sie stets nach einer Gelegenheit, sie auch zu benutzen. Nun kündigt sie sich immer an. Ich kann ihr einige Neuigkeiten berichten. Sie wird mir hoffentlich nicht wieder eine Plastiktüte voller Fotos, sondern endlich wieder Mandeln aus dem istrischen Garten und getrocknete Feigen, Aprikosen und Pflaumen mitbringen.
Heute habe ich grünen Tee getrunken und zwei weitere Kartons ausgepackt. Ich bin auf alte Tagebücher, Fotoalben und Adressbücher gestoßen. Ich habe in ihnen geblättert und beschlossen, keine Schuhe mit hohen Absätzen mehr zu tragen. Meine Telefonnotizen von damals haben mich an die hohen Schuhe erinnert, die mir Tante Mila gleich Anfang der Neunzigerjahre mitbrachte, sie
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