Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)
unendlich und war mir unheimlich. Ich fühlte mich eingesperrt und lobte dort unten die Schönheit des Gartens, in der Hoffnung, sie würden bald wieder mit mir hinaufgehen. Als es endlich soweit war, tranken wir im Wohnzimmer Tee aus feinen Porzellantassen. Clément richtete kein einziges Wort an mich, sah nur Arik an, als er fragte, ob wir noch Gebäck zum Tee haben wollten. Und dann unterhielt er sich nur mit Arik, wollte wissen, wann er ihn wieder besuchen kommen würde. Wirst du nächstes Wochenende da sein? Signora Souza wird die Pflaumen ernten und danach gibt es Kuchen. Sie macht den besten Pflaumenkuchen der Gegend! Jetzt sah er mich endlich an. Ich hatte keine Ahnung, wer Signora Souza war, und fragte auch nicht nach. Weder die Pflaumen noch den Kuchen wollte ich hier essen. Ich wollte nur weg, so schnell wie möglich. Doch ich saß nur schweigend da und trank den Tee so leise ich nur konnte. Und spürte, dass sich wieder mein altes Herzklopfen über mein neues Denken legte. Jedes Mal, wenn mir klar wurde, dass etwas gesagt werden musste, fing mein Herz an laut zu klopfen. Statt zu sprechen, schwieg ich dann.
Über das kommende Kind sagte Clément nur milde lächelnd, Arik, du wirst Vater, das hatten wir so nicht besprochen. Ich sah in den Garten hinaus. Arik baute keine einzige Brücke in diesem Gespräch für mich, und ich fügte mich dem Geschehen, als hätte ich keine eigene Zunge. Arik las dem Onkel am Schluss noch etwas aus einem Buch vor. Das war eine Art Ritual. Ich weiß nicht mehr genau, was es an jenem Nachmittag war, nur dass es irgendwie philosophisch klang, vielleicht war es von Friedrich Nietzsche, dem heißblütigen Chaos-Verfechter. Ich fragte mich, was für ein Mensch dieser Clément eigentlich war und was er überhaupt hier in seinem Haus sitzend von der Welt wusste. Er ging nie hinaus und unternahm nie etwas in der Umgebung, fast schien es, als wäre ihm die Welt vor seiner Tür vollkommen egal. Arik hatte mir auf der Fahrt erzählt, dass sie nicht ein einziges Mal in einem Restaurant zu Abend aßen, wenn er ihn hier besuchte. Was ein Mensch, der sich nie fortbewegte, mit Nietzsches Satz über das Chaos anfangen konnte, war mir ein Rätsel. »Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können.« Diesen Satz hatte mir Nadeshda auf ein T-Shirt drucken lassen, das ich immer zum Schlafen anzog, weil ich eine ganze Zeit lang Nietzsches Buch Also sprach Zarathustra wie eine Bibel mit mir herumtrug. Ich gab mir in jenem Augenblick auf Cléments Couch keine Mühe, den Wert meines Lebens gegen den von Ariks Onkel auszuspielen, aber bis heute beschäftigt mich die Frage, was ein Mensch erfahren kann, wenn er sich in seinem eigenen Leben immer in ein und demselben Radius bewegt und nie gezwungen ist, sich jenseits des ihm bekannten Kreises zu denken. Ich sah sie an, ihre Münder bewegten sich schnell, und es wurde immer rätselhafter für mich, woher eigentlich ihre Stimmen kamen. Arik und Clément redeten eine ganze Weile über Marcel Prousts Suche nach der verlorenen Zeit . Arik war fast unterwürfig und ging ausgiebig auf jede Frage des Onkels ein, während sich in meinem Kopf eine alles verschlingende Leere breitmachte. Und mit einem Mal sah ich mich selbst, sah mich, wie ich dasaß, mit meinen schüchternen Händen in meinem sichtbar gewordenen Schoß, saß da, verloren und ohne Kontakt zu den beiden Männern, auf Cléments Couch, vor Cléments Teetisch, mit Cléments Tasse in der Hand. Ich spürte die Stärke einer alten Leere in meinem Inneren, ihre mich lähmende Kraft. Der Vogel war mein Zeuge. Ich sah ihn einmal Traum. Er begleitete mich fortan in meiner Vorstellung, war mein Schutzvogel, half mir, mich selbst zu sehen. An der Art, wie vereinsamt mir mein eigener Körper vorkam, sah ich meine Ausweglosigkeit. Der Vogel saß auf meiner Schulter, sah mit, sah mich an, sah meine Hände, meinen Schoß, sah meine Stummheit, und das Rätsel von Ariks und Cléments Stimmen hielt mir mein eigenes Bild vor. So sah ich aus, wenn ich nicht ich selbst war. Ich war gefangen in diesem sprachfernen Raum, meiner Zunge, meines Mundes, meines Atems beraubt und meiner eigenen Feigheit ausgeliefert.
Nie hatte mich interessiert, wie man leben soll . Aber in jenem Augenblick beim Tee wusste ich, dass ich es mir so nicht vorgestellt hatte, mein Leben im Frieden – mein Leben, in dem sich mir meine eigene Zunge, mein eigener Mund, mein eigener Atem widersetzte. Meine Haut schien
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