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Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)

Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)

Titel: Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marica Bodrožić
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mochte sie nicht mehr. Ich stieß beim Herumblättern auch auf alte Telefonnummern von Hiromi und Nadeshda. Wo sind jetzt meine Lieblingsschuhe von damals? Ich frage mich, worin genau der Wert von einem Einzelnen besteht, wenn wir doch alle ab einem bestimmten Zeitpunkt in der Menge der Namen, Nummern und Adressen verschwinden. Oder ist das gerade eine Möglichkeit, der eigenen Austauschbarkeit zu entkommen? Die Hauptstadt der Liebe! Wie viele Hunderte anderer Lebensgeschichten sind ähnlich wie die unsere verlaufen? Und was war der Unterschied, warum sind wir nicht nur eine Ziffer unter tausend anderen? Zärtlich fahre ich mit den Fingerkuppen über das Papier des alten Adressbuchs. Nur Mischa Weisbands Nummer hat sich über die Jahre erhalten. Er hat mich heute wieder angerufen. Es war Gedankenübertragung, etwas, das ich schon unzählige Male mit ihm und Dora erlebt habe – kaum denke ich an sie, rufen sie mich an. Ich konnte die sprichwörtliche Uhr danach stellen.
    Natürlich steht in meinem alten Adressbuch auch Ariks Telefonnummer von der Place Dauphine, gleich am Anfang, obenauf. Ich habe in Paris immer und vor allem dann, wenn er sich mir entzog, geglaubt, dass ich seine Nummer für alle Zeiten auswendig können und sie nie vergessen würde. Jetzt sehe ich auf die von meiner eigenen Hand geschriebenen Ziffern wie auf etwas völlig Unbekanntes, etwas, das mich wie die Verdichtung meiner eigenen inneren Fremdheit anstarrt. Es wäre mir unmöglich, jetzt, im Alter von fast vierzig Jahren, Ariks Nummer mit der gleichen Euphorie wie damals zu wählen. Soll ich es versuchen? Zuerst kam eine Vier, das weiß ich noch. Der Rest ist wie ausgelöscht. Ein Foto, das Arik einmal bei einem kleinen Ausflug nach Versailles von mir gemacht hatte, steckt gleich auf der ersten Seite des Adressbuchs. Unser kleiner Hund Gustave ist darauf zu sehen, ich trage die viel zu hohen Schuhe meiner Tante Mila.
    Es war ein sonniger Nachmittag, wir waren auf dem Weg zu Ariks Onkel. Er wollte ihn mir vorstellen. Arik fuhr immer noch oft zu ihm. Als wir das Haus des alten Mannes betraten, sagte Arik, eines Tages werde ich das alles hier erben. Dann können wir hier wohnen. Oder jetzt schon, wir könnten jetzt schon einziehen, sagte er lächelnd. Ein ganzes Stockwerk hatte sein Onkel ihm schon überlassen. Ich schob ihn von mir weg, dachte, er zieht mich auf. Er sollte mir nichts mehr versprechen, das er nicht imstande war zu halten. Ich spürte, dass er es ernst meinte. Und doch konnten bei Arik gerade die ernsten und ehrlich gemeinten Absichten von einer auf die andere Minute in Fiktion kippen. Das waren genau jene Augenblicke, in denen ich anfing, an ihm und seinen Worten festzuhalten. Dann warf er mir vor, Möglichkeit und Wirklichkeit verwechselt zu haben. Er sagte immer, er habe nur laut gedacht, nur Ideen geäußert. Es dauerte lange, bis ich verstand, dass Arik gekonnt mit diesem Spiel Verwirrung stiftete, vor allem für sich selbst. Irgendwann hatte in seinem inneren System nichts mehr eine Bedeutung, die Achsen verschoben sich immer, je nachdem, was er gerade empfand. Alles war möglich. Nichts wertvoll. Alles austauschbar. Das einzig Wichtige war und blieb für ihn, dass er sich selbst größtmögliche Freiräume ließ und seine Entscheidungen jederzeit wieder rückgängig machen konnte.
    Das Haus des Onkels war sehr geräumig, die Fenster reichten bis zum Boden. Die Sonne fiel kräftig ins Haus und erhellte die Weite der Räume. Ein riesiger Garten mit Blumen und Kräutern erstreckte sich zum Süden hin, alles mögliche wuchs dort, Rosen, sogar Mangold und Salat waren in einer Ecke zu sehen, Mohrrüben und Lauch, Sonnenblumen und ein Strauch mit prallen roten Tomaten. Clément war ein mürrischer alter Herr, dem es gelang, mich beinahe vollständig zu übersehen. Aber er zeigte stolz sein ganzes Haus, wohl, um mich zu beeindrucken, denn Arik kannte das Anwesen ja längst. Vielleicht wollte Clément mich auch abschrecken, mir zeigen, dass hier für mich kein Platz sei.
    Der Keller war voller Zeitschriften. Clément sammelte seit drei Jahrzehnten alle Ausgaben von Paris Match . Er hatte sie in grauen Ordnern abgelegt, auf deren Rücken fein säuberlich die Erscheinungsjahre notiert waren. Ein modriger Geruch lag in den Räumen und strömte uns von den Regalen entgegen. Eine tief sitzende Kälte ging von den Wänden aus. Ich sehnte mich nach der Sonne. Mir war kalt, nicht nur wegen des Kellers. Die ganze Führung dehnte sich

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