Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)
mir nicht mehr zu gehören. In dieser merkwürdigen Unausgewogenheit zwischen den Gedanken in meinem Kopf und den Empfindungen, die mir mein Körper mitteilte, wurde mir mein eigenes Unvermögen, meine starre Bewegungslosigkeit klar. Die Stimmbänder schienen gerade dann, wenn dies nötig war, vernäht zu sein und verweigerten mir ihren Dienst. Ich war unaufrichtig, deshalb kam ich in solche Situationen wie diese. Es war nicht so, wie ich es über Jahre hinweg geglaubt hatte. Ich war in kein Gefängnis geraten, ich selbst sperrte mich in mein Inneres ein, so wie jetzt, auf der Couch von Clément, in seinem Haus, das er seit Jahren nicht mehr verlassen hatte und in dem er bald darauf sterben würde.
Clément hatte angenommen, dass ich Marcel Proust für den Namen einer Schokoladensorte hielt. Es war mir nicht wichtig, seinen Irrtum richtigzustellen. Er war der erste ältere Mensch, vor dessen Alter ich keinen Respekt und schon gar keine Achtung empfinden konnte. Die Fenster standen alle offen. Die Vögel waren im Garten zu hören. Arik bewohnte tatsächlich das ganze erste Stockwerk. Ein separater Eingang, ein eigener Telefonanschluss und sein Name an der Eingangstür waren das eindeutige Zeichen dafür, dass er hier ein paralleles Leben führte. Zwei von Ariks neuen Pullovern, die wir zusammen im Kaufhaus Samaritaine an der Pont Neuf gekauft hatten, lagen auf dem Boden, er hatte sie achtlos fallen lassen. Bücher, in denen Pizza-Bestell-Zettel steckten, waren direkt daneben zu sehen, dazu schmutzige Gläser und Teller aus dem Küchenbestand des Onkels. Wir verbrachten noch ein, zwei Stunden im Garten. Die Haushaltshilfe, Signora Souza, kam vorbei und stellte sich mir lächelnd vor. Sie kümmerte sich auch um die Beete und die Bäume. Das erklärte mir die geordnete, fast fröhliche Buntheit auf dem Hof, die ich anfangs gar nicht mit Clément in Verbindung bringen konnte. Signora Souza war eine ältere Portugiesin, die seit Jahren für Clément arbeitete. Später, als Arik krank wurde und die Einkäufe nicht mehr allein erledigen konnte, war sie auch für die Pariser Wohnung verantwortlich. Der Onkel bezahlte alles. Jetzt begriff ich, woher Arik das viele Geld für seine Reisen hatte. Seine Bilder waren zwar bei Sammlern ganz beliebt. Aber allzu oft konnte er sie nicht verkaufen, jedenfalls nicht in solchen Stückzahlen, dass er in Paris davon hätte leben und seine Miete an einem der teuersten Plätze der Stadt bezahlen können. Dann fiel mir auch noch die Wohnung in der Bretagne ein, und es lag auf der Hand, dass ihm der Onkel das Appartement am Meer gekauft hatte.
Am Abend fuhren wir ohne viel zu reden in die Stadt, und ich fragte mich, was ich eigentlich über Arik und sein Leben wusste. Hatte er jemals mit einem anderen Menschen längere Zeit gelebt? Konnte er so eine Vorstellung überhaupt auf Dauer ertragen? Clément hat mir keine einzige Frage gestellt, sagte ich, er hat mich wie Luft behandelt. Und Arik sagte, du hättest selbst mit ihm reden können, Clément weiß, woher du kommst, dass du vor Jahren aus der belagerten Stadt geflohen bist – vielleicht dachte er, dass du nicht so gut Französisch sprichst. Außerdem, sagte er, hast du ihn auch nichts gefragt. Wie sehr er recht hatte, wusste ich selbst. Das also waren die Spiegel, von denen Mischa manchmal redete. Ich verstand, dass Clément Angst hatte, Arik an mich zu verlieren. Hätte ich seine Angst ernst genommen, wäre mir vielleicht eine andere Begegnung mit Clément möglich gewesen, Arik wäre nie in die Lage geraten, sich zwischen uns entscheiden zu müssen. Die Momente des Lebens lassen sich nicht zurückrufen, nichts geschieht in einer Wiederholung, alles ist immer nur einmal. Heute weiß ich, dass ich in jedem Fall mehr über Clément hätte erfahren können. Später hat mir Arik noch einiges über ihn erzählt. Zu der Zeit als mein Freund Mischa Weisband in Trostenez war, kämpfte Ariks Onkel in der französischen Widerstandsbewegung. Er war ein Mann, der sein Leben für andere Menschen riskiert hatte. Er sah gar nicht so aus auf seiner altmodischen Couch. Und ich war vierundzwanzig Jahre alt, zu jung, um ein halbes Jahrhundert zu verstehen, das er in sich trug. Was hätte dieses Wissen für mich an jenem Nachmittag geändert? Vielleicht nichts. Vielleicht alles. Die Geschichte eines Menschen musste einen Unterschied machen, jeder Einzelne machte einen Unterschied, auf den es ankam. Sonst wäre der Tod wohl sinnlos und mit ihm auch das
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