Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)
darauffolgenden Nachmittag unter der Decke gefunden, die er mir geschenkt hatte, damit ich nicht fror.
Ich traf Signora Souza gleich nach unserer Ankunft an der Place Dauphine. Außer Nadeshda und mir gab es, sagte sie, niemanden, der zu seinem Begräbnis geladen war. Ich dachte an die Frau und das Kind in Montréal. Bis zum Schluss hatte er sie geleugnet. Aber im Testament kam der Junge vor. Signora Souza, Nadeshda und ich kauften Arik einen Kranz. Wir begruben ihn auf dem Friedhof Montparnasse, so wie er es sich gewünscht hatte. Danach trafen wir Dora und Mischa und gingen gemeinsam in Sophies kleines Restaurant. Aber essen konnten wir nichts. Neben uns saß lächelnd Parfümella und begrüßte uns wie alte Bekannte. Sie sah aus wie früher, hatte nur ein paar Falten mehr, roch aber wie immer nach einem halben Liter Opium.
sechster tag
Heute habe ich fast alle Kisten ausgeräumt. In der Leere der Räume ist noch nicht viel gesprochen worden. Die von Erinnerung freie Luft aus dem Vögelchenzimmer macht sich auch in den anderen Räumen breit. Manchmal scheinen sich meine Zimmer zu weiten. Seitdem ich hier wohne, denke ich immer wieder an das Meer. Je länger ich in der Lage bin zu schweigen, desto entschiedener reisen meine Ohren zum Meer, zurück zu den Orten am Meer, zu den Häusern am Meer, zu den Menschen am Meer. In der Erinnerung an das Meer strenge ich mich nie an. Es ist eine Reise ins Blaue. Innere des Wassers. Ohren, rauschen. Kein Knirschen. In den Knochen. Ich sehe Segelboote vor mir und kleine Fischerbarken. Netze, angefüllt mit dem nächtlichen Fang. Mein Kopf ist darüber so überrascht, dass der Druck vorne in meiner Stirn fast vollständig aufgehört hat. Das alte Pochen und Picken und Drängen, es ist Erinnerung. Bald wird es nur noch Ahnung sein, und ich werde mich im Zurückdenken anstrengen müssen, wenn ich wissen will, wie es damals war, mein Leben. Die Ohren hören das Meer. Sie hören es für mich, und ich werde durch mein Ohr dieser Klangraum, die sich stetig wiederholende Arbeit des Meeres. In der Tiefe der Stille kommen sie an der Küste an. Die Wellen. Ich spüre den Sand von früher zwischen meinen Zehen. Ich höre mich, höre meinen eigenen Atem, nach dem Einsatz des Meeres, in seinem Gleichklang, die unermüdliche Arbeit der Wellen und der Stille, die dann folgt, in meinen Ohren. In der Meeresstille habe ich keinen Namen. Bin ich. Noch nie vorher habe ich gehört, wie laut einem die Lunge das Leben voratmet. Und ich frage mich, da alle Orte ein Ort in mir geworden sind, alle Zeiten eine Zeit in mir, ob ich es nun hier schaffen werde, in ihrem Verlangen weiterzumachen, in ihrem Tempo in die Zukunft zu gehen, ohne ihr zum Opfer zu fallen. Oder ob ich meiner Lunge etwas anderes beibringen, ihr Murmeln in mein Murmeln wenden muss, in meine ganz eigenen Wörter, die sie nicht kennt, nicht kennen kann, da ich dafür zuständig bin, sie ihr zu geben, über den Rand zu reichen, durch das Gatter, das unsere Berührungen darstellen. Die Reibung mit der Luft. Zittern. Beim Gedanken an die Weite des nach Innen verlegten Raumes, in dem es keine Landkarte gibt. Nichts, das mir den Weg im Dunkeln weisen würde. Und doch liegt genau darin eine Genauigkeit, die präzise mit meiner Lichtlinie verbunden ist. Das weiß ich. Da bin ich schon jenseits der Ahnungen. Auf eine immer gleiche Weise schiebt sich die Sonne in den Morgenstunden über die Fläche des Holztisches. Meine Küche, in der der Tisch steht, zeigt Richtung Osten. Der Tisch ist hier von Anfang an meine kleine Sonnenstation gewesen. Und wie jeden Morgen habe ich auch heute wieder als erstes meine Hände auf den Tisch gelegt, seine Wärme gespürt, bevor ich meinen Kaffee getrunken habe. Die Plastiktüten, die meine Mutter mitgebracht hat, habe ich nach dem Frühstück auf dem Tisch ausgeschüttet. Gestern Abend hatte ich Angst vor dem Durcheinander. Einen Moment lang spielte ich mit dem Gedanken, zur Mülldeponie zu fahren, alle Fotos aus den Tüten in einen großen schwarzen Sack zu stopfen und sie dort zu entsorgen. Aber dann stellte ich mir plötzlich vor, dass irgendein verrückter Künstler genau so etwas suchen würde, so etwas wie mein Leben, dass er dort vorbeikommen und die Fotos einfach aufklauben, sie zu seinem Eigentum, zu seinem Gedächtnis und am Ende zu irgendeiner Serie in seinem Werk machen könnte. Dann wäre er der Erzähler unserer Sommermonate am Meer. Nicht ich. Die Fotos musste ich allein schon deshalb behalten.
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