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Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)

Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)

Titel: Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marica Bodrožić
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Oder verbrennen. Sie durch das lebendige Feuer gehen lassen. Aber das konnte ich ja immer noch machen. Bevor ich einschlief, beschloss ich, die Plastiktüten keinem Fremden zu überlassen, sie nicht aus den Händen zu geben.
    Ich versuche, eine Ordnung in das Chaos auf dem Tisch zu bringen und die Fotos nach Jahren, Geburtstagen und Festen zu sortieren. Meine Mutter und ihr Blick sind bei mir. Sie sieht mir über die Schulter, schaut nach, ob ich mich gut um ihr Kodak-Brownie-Erbe kümmere. Der warme Tisch wird mein großes Passepartout, ein Rahmen für meinen lange aufgeschobenen Versuch, Mutter und ihren Augen gerecht zu werden. Worüber wacht sie in meiner Vorstellung? Meine Mutter hat mich vor ein paar Monaten in meiner alten Wohnung besucht, und ich habe sie endlich gefragt, warum sie mir immer die alten Fotos in Plastiktüten bringt. Lieblos zwingt sie unsere ganze Welt von früher in sie hinein. Ihre Antwort war bezeichnend. Sie hat alles auf das begrenzte Gepäck geschoben. Sie wolle kein Geld wegen dieser alten Sachen ausgeben. Außerdem war es die letzte Tüte. Sie wird mir keine Fotos mehr mitbringen. Ich sehe sie mir an, ihre Schnappschüsse haben schon einen leichten Stich ins Haselnussfarbene. Fotos aus einem ganz anderen Jahrhundert. Sie wirken koloriert und einem mir jetzt schon fremden Zeitmaß entsprungen, jenseits der Zeiger, die auf unseren Uhren die Stunden zählen. Das Haselnussfarbene sagt: Es ist für immer vorbei und wer bist du jetzt? Auf vielen Schnappschüssen trage ich die bunten Kleider, die mir meine Mutter angezogen hat. Ganz oft stehe ich zusammen mit meinem istrischen Freund Mateo unter einem Baum. Er lächelt und hat ein weißes T-Shirt mit blauen Streifen an. Mateo wollte schon damals Philosoph werden, nicht Matrose, wie ich es gern gehabt hätte. Er hat gesagt, dass nur Idioten Matrosen werden, das hatte ich ihm aber nicht geglaubt. Kein Idiot kann so gut aussehen wie ein Matrose, sagte ich, und Mateo lachte, ich solle abwarten und später noch einmal mit ihm darüber reden. Das habe ich ihm versprochen. Aber als Erwachsene haben wir nie wieder darüber geredet. In Istrien erzählte er mir jeden Sommer von Diogenes in der Tonne. Und schon damals, ich muss ungefähr fünf Jahre alt gewesen sein, versuchte meine Mutter, ihm beizubringen, dass es vielleicht gar keine Tonne war, in der der alte Grieche saß. Mateo ärgerte sich über sie. Er wollte einfach an der Diogenes-Tonne festhalten und fand es kleinlich, dass meine Mutter ständig auf ihre Übersetzungsidee zu sprechen kam. Sie ist rechthaberisch, sagte er dann, wenn wir unter den Bäumen saßen, die Hunde ihre Köpfe an unseren Füßen ablegten und mit ihren warmen Schnauzen unsere Zehen kitzelten. Mateo hat einige Jahre im Garten meiner Großmutter gearbeitet und so gab es keinen Baum, unter dem wir nicht irgendwann fotografiert worden wären. Jahrelang hat meine Mutter nichts über Mateo erzählt. Aber bei ihrem letzten Besuch redete sie nur noch über ihn, alles, was sie in der neuen Zeit als schmerzlich empfand, schien sich für sie in seiner Person zu bündeln. Ich weiß nicht, was von den Geschichten stimmt. Aber er hatte sie enttäuscht, das war nicht zu übersehen, wahrscheinlich gerade weil er Philosoph war, der einzige aus dem istrischen Dorf.
    Die letzten zwei Wochen, die meine Mutter mit Nadeshda, Ezra und mir in Berlin verbrachte, redete sie beinahe ununterbrochen über Mateo und erzählte nichts über sich. Dabei hatte ich gehofft, dass sie sich dieses Mal nach all den Jahren des beharrlichen Schweigens öffnen und ich mehr über sie erfahren würde. Kaum dass aber die Rede nicht von Mateo war, sprach sie vom kommenden Sommer, und ich befürchtete plötzlich, dass sie mich bitten könnte, sie in Istrien oder in der Stadt zu besuchen. Ich wusste nicht, ob ich die Kraft haben würde, um ihr diesen Wunsch zu erfüllen. Aber als sie mich dann doch nicht fragte, war ich enttäuscht. Zugleich spürte ich ihre Scheu wie nie zuvor, bemerkte, dass sie wie ein Kind auf die Füße sah, wenn ihr ein Thema unangenehm war. Schon früher war es immer ihre Art gewesen, jede Lücke mit Geschichten zu füllen, die ihr plötzlich einfielen und die sie uns fast atemlos erzählte, als ginge es um ihr Leben. Nie wusste ich, wie viel sie von mir wahrnahm, doch darüber, dass ich nun in Berlin lebte, schien sie glücklich zu sein. Weißt du, sagte sie, du wirst nie erfahren, wie beharrlich Blut an Schuhen kleben kann. Und das sei mein

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