Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)
aber, dass sie in ihren Träumen weitergeraucht hat. Die Träume sind immer das Problem. In ihnen geht alles weiter, was wir untertags verlieren oder nicht sehen. Manchmal wache ich auf und habe das Gefühl, auf der anderen Seite der Erde ein paralleles Leben zu führen, ein anderes Herz zu haben, andere Nieren, andere Augen. Dann stelle ich mir vor, dass alles, was dieser Mensch auf der anderen Seite der Welt über sich lernt, auch mir hilft, so wie es manchmal hilft, was uns Fremde im Vorübergehen zeigen, vor allem jene, die auf der Durchreise sind, solche, die nichts haben, die sich auf nichts anderes stützen können als auf sich selbst.
Ich mache einen neuen Umzugskarton auf und hole meine alten Tagebücher aus Paris heraus, lege sie vor mir auf dem Küchentisch aus, suche die Hefte vom Anfang der Neunzigerjahre, blättere, suche nach dem Tag, an dem ich mit Arik auf der Brücke war. Über zwei Stunden lese ich darin, bis es an der Tür klingelt. Nadeshda bringt mir Ezra vorbei, und wir gehen wieder auf den Spielplatz.
Ezra fragt mich zum ersten Mal, warum er keinen Vater hat. Du hast einen Vater, sage ich, aber er lebt ganz weit weg. Wo denn? In Amerika. Er schweigt, sieht mich lange an. Wo genau liegt das?, fragt er nach einer Weile. Das ist ganz weit weg, sage ich, in Bakersfield, Kalifornien, auf der anderen Seite des Ozeans. Ich wundere mich, dass Nadeshda ihm nichts von Ilja erzählt hat. Ich küsse Ezra auf die Stirn und bringe ihn wieder nach Hause. Er sagt, in Kalifornien scheint immer die Sonne. Also hat sie es ihm doch erzählt, denke ich, nicke, sage, ja, fast immer scheint dort die Sonne, und Ezra nötigt mir das Versprechen ab, einmal mit ihm dorthin zu fahren, in dieses weitentfernte Land, das ihm so weit weg vorkommen muss wie mir mein paralleles Leben auf der anderen Seite der Erde, das Leben, an das ich manchmal denke, wenn ich mir meine Doppelgängerin vorstelle, irgendwo in einem Land, dessen Sprache ich nicht spreche, wo ich mir fremd bin, den Splittern und Bildern, Funken und Wundern ausgeliefert, getrieben vom Hunger, wie ein Tier, das um sein Überleben kämpft.
In der Wohnung sortiere ich akribisch weiter meine Schuhe. Zähle sie, zähle eins, zwei, drei, vier. Laut. Mit lauter Stimme. Die Schuhe mit Absätzen trage ich alle zum Müll hinunter. Und sehe mir meinen Keller an. Ausgerechnet an meiner grob gezimmerten Tür steht Zum Schutzkeller . In Frakturschrift. Die Schrift sieht bedrohlich aus. Vergangenheit, denke ich, sie ist überall, hängt fest in den alten Gemäuern. Der gleiche Mensch, der es hier aufgemalt hat, hat vielleicht auch zuvor ein oder zwei oder fünfzig Hakenkreuze gemalt. Es erstaunt mich, dass die weiße Farbe so lange hält. Die Vorstellung, was alles im Krieg in diesen Kellerräumen passiert und gedacht worden sein könnte, jagt mir einen Schauer über den Rücken, der noch lange nachwirkt. Schnell schließe ich den Keller ab und renne förmlich weg, zurück in meine Wohnung. Hier fühle ich mich sicher. Mein erster Impuls ist, gleich Mischa anzurufen und ihm von der Tür zu erzählen. Aber dann fallen mir die Gläser mit den Menschenaugen ein, die Biologin Karin Magnussen, die über Jahrzehnte hinweg in ihrem Wohnzimmer an die vierzig Augenpaare aufbewahrt hat. Bevor ich den Gedanken abschütteln kann, klingelt das Telefon. Wir synchronisieren unsere Gehirne, sagt Mischa, als ich ihm erzähle, was mir gerade durch den Kopf gegangen ist. Aber von der Frakturschrift in meinem Keller sage ich nichts. Ich frage mich, was damals nach dem Krieg mit den Arier-Ausweisen passiert ist, ob die jemand eingesammelt hat oder ob sie noch in den Wohnungen und Häusern dieses Landes herumliegen, sicher verwahrt, für den Fall der Fälle.
Mischa will nur wissen, wie es mir geht, ob ich die Sache mit der Bretagne gut überstanden habe. Ich bin vor kurzem dort gewesen. Nach Ariks Tod war ich noch einmal in seiner Wohnung an der Place Dauphine. Sein Notar ließ mich von seinem letzten Willen wissen. Und Nadeshda und ich reisten zusammen nach Paris. Nicht nur im Leben hat Arik uns immer überrascht, auch nach seinem Tod war es wie zuvor in seinem Leben – unruhig wie auf einem winzigen Segelboot draußen auf dem Meer. Wir mussten einfach seinem Willen folgen. Es war Herzstillstand, nach einer Kehlkopfoperation. Vor der Einweisung ins Krankenhaus hatte er begonnen, an der Nervenkrankheit zu leiden. Signora Souza sagte mir, Arik sei im Schlaf gestorben. Sie hatte ihn am
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