Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)

Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)

Titel: Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marica Bodrožić
Vom Netzwerk:
Streichholzschachtel mit dem Maskottchen und dem roten Logo der Olympischen Winterspiele von 1984. Meine Großmutter sah zufällig, dass über Nacht in ihren Schuppen eingebrochen worden war. Ihre Holzvorräte für den Winter waren bis auf den letzten Scheit weg. Einen ganzen Monat lang wusste sie nicht, wer hinter alledem steckte. Aber es sprach sich schnell herum, dass die alten antifaschistischen Denkmäler seit einiger Zeit im Landesinneren zerstört wurden und nun auch seit Tagen lichterloh brannten. Bald kam auch heraus, dass sie von einer organisierten Gruppe in Brand gesteckt wurden. Dafür brauchten sie Holz, das nach dem Krieg knapp war. Mutter sah es als erwiesen an, dass es die gleiche Gruppe war, die Großmutters Vorräte gestohlen hatte und die sich jetzt als Verein um die Reinheit der Sprache kümmerte.
    Mein Onkel Milan hatte einige der alten Denkmäler in den Sechzigerjahren entworfen und mitten in der Natur, manchmal auch in den Bergen bauen lassen. Bevor er nach Frankreich emigrierte, war er noch für seine raumschiffgroßen Arbeiten mit internationalen Preisen ausgezeichnet worden. Auch nach seinem Fortgehen aus Jugoslawien war er stolz auf seine Denkmäler, auch auf die seiner Kollegen. Wenn auf den Spaziergängen, die ich mit Tante Sof ij a und ihm in den Wäldern bei Meudon gemacht hatte, die Rede darauf kam, zeigte er sich überzeugt davon, dass die Menschen sie – egal welcher Nationalität oder Religion – nach dem Zusammenbruch des Landes in den einzelnen Republiken stehen lassen würden. Angst davor, dass sie im Krieg zu Schaden kommen könnten, hatte er aber durchaus. Onkel Milan täuschte sich. Die meisten der antifaschistischen Denkmäler überstanden den Krieg, nur wollte sie jetzt niemand mehr sehen, niemand mehr etwas über den Zweiten Weltkrieg und die Heldentaten von Titos Partisanen wissen. Im Gegenteil, sie störten jetzt mehr denn je.
    Meiner Großmutter kam irgendwann in den Sinn, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Verschwinden der Streichholzschachtel und dem Holz in ihrem Schuppen geben könnte. Die Leute in den umliegenden Dörfern waren ratlos. Vor allem von den Alten, die den Zweiten Weltkrieg, Mussolinis und Hitlers Truppen und den kroatischen Faschismus überlebt hatten, wusste niemand, wer sich für so etwas hergab. Es war aber ganz einfach. Hinter alledem steckte mein alter Freund Mateo und er erzählte darüber selbst in der Dorfschenke. Er gehörte zu den zahnlosen Kriegsrückkehrern, die niemand mehr auf den ersten Blick erkannte.
    Meine Mutter sagte, er habe sich an der Front das Denken schnell abgewöhnt, wenn er denn wirklich zu denken überhaupt je vermocht habe. Nun entdecke er seine Qualitäten als großer Sprachreiniger, sagte sie verächtlich. Da er studierter Philosoph war, akzeptierten die Leute ihn im neuen Staat sofort als Autorität. Alle möglichen Fremdwörter, besonders die aus dem Lateinischen, übersetzte er, wie er es sagte, in seine Sprache. Er wollte seine Ergebnisse in einem Buch der Öffentlichkeit – und damit meinte er: der neuen Nation – zur Verfügung stellen. Mutter sagte, sie habe ihn überhaupt nicht mehr erkannt, als sie meine Großmutter Inge in Istrien besuchte.
    Es war ihr unmöglich, mit Mateo ein normales Gespräch zu führen, weil er sie ständig belehrte, ihre Wortwahl und ihre Syntax kritisierte und ihr Hinweise gab, wie sie alles besser und richtiger ausdrücken konnte. Er kannte kein anderes Thema, es ging ihm nur um seine Sprache. Die ist sein Alles, sagte meine Mutter, und nichts lässt er auf seine hehre Nation kommen. Man hatte sie doch alle angegriffen. Ein ganzes Volk sei Opfer geworden. Und gewehrt habe es sich, weil es etwas zu verteidigen hatte. Das Eigene, meine Liebe, sagte Mateo dann zu meiner Mutter, die ihn schon als Kleinkind gekannt und mit Büchern aus Sarajevo versorgt hatte, das Eigene muss man mit allen Mitteln verteidigen. Was denn das Eigene sei, fragte meine Mutter ihn, worauf er etwas ratlos guckte und dann laut: ZUALLERERST DIE SPRACHE ! sagte. Ach so ist das, sagte meine Mutter, Philosophen werden ja zum Glück zu keiner Zeit arbeitslos. Aber Mateo überhörte die Ironie in ihren Worten. Er liebte sich in seiner neuen Rolle und sah sich im Dienste an der richtigen Sache.
    Vor dem Krieg hatte Mateo gewissenhaft begonnen, Philosophie zu studieren, und weil er für sein Denken im Sozialismus von niemandem bezahlt wurde, so hatte es früher mein Großvater formuliert, arbeitete er im Garten

Weitere Kostenlose Bücher