Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)
seine Stirn auf den Stein. In diesem Moment offenbarten ihm Hunderte von Marienkäfern ihre Anwesenheit. Leuchtend, mit vielfachen Punkten, landeten sie auf seinen Schultern, Armen und Händen. Etwas Seliges ging von dieser Szenerie aus, so friedlich war sie, dass ich, die Beobachterin, unverhofft lächeln musste und beinahe Ariks schlimme Lage vergaß. Das war der Augenblick, in dem ich an seinem Traum teilnahm und in dem er anfing, die Marienkäfer zu töten. Er zerquetschte sie einfach mit seinen großen Händen. Die Marienkäfertötung schien Stunden zu dauern. Um Zeit kümmerte Arik sich nicht, er machte so lange weiter, bis sie alle tot waren. Ich schaute wie gelähmt zu, sah, dass ein einzelner Marienkäfer versuchte, sich auf der Höhe seiner Brust in sein Hemd zu retten. Im Traum, daran erinnere ich mich noch heute, dachte ich, dass dieser letzte Marienkäfer in sein Herz kriechen und sich dort in Sicherheit bringen wollte. Aber Arik gestattete das nicht. Er tötete auch diesen letzten Marienkäfer, der, ich sehe es deutlich noch vor mir, ein Achtpunkter war. Doch das entging Arik völlig. Ihm war gar nicht aufgefallen, dass die Marienkäfer unterschiedlich viele Punkte auf den Flügeln hatten. Als er fertig war, sah er zufrieden aus, entdeckte mich als Zeugin und schlief milde lächelnd auf der Bank ein. Ich sah ihm zu. Sobald er aufwachte, rannte er los, so schnell er konnte, er rannte von der Bank und den Marienkäfern weg, anfangs ein bisschen stolpernd, dann sehr schnell, geübten Schrittes. Er war schnell wie der Wind. Und der Traum für immer vorbei.
Ich hatte diesen Traum an einem jener Nachmittage geträumt, an denen wir an der Place Dauphine lasen und dann wie Kinder Schulter an Schulter auf dem Boden in der Sonne einschliefen. Als ich wach wurde, glaubte ich an seinem rechten Mundwinkel ein kleines Rinnsal zu entdecken. Für einen kurzen Moment hielt ich es, in Gedanken noch bei den Marienkäfern, für Blut. Aber es war nur ein Schatten, der mit dem Sonneneinfall weiterwanderte. Arik atmete leicht, nichts schien sein Gewissen zu belasten. Er war Arik, jetzt und für immer, Arik, der Maler. Vielleicht kann er selbst im Schlaf sein Gesicht kontrollieren, dachte ich damals, vielleicht kann er immer und alles kontrollieren. Und so war ihm sein Gesicht unter den Gesichtern, die er der Welt vorzeigte, gar nicht bekannt.
Vielleicht hat Arik vor allem immer nur sich belogen und nie etwas gefühlt. Vielleicht wollte er mich nur in seiner Nähe behalten, um mich wie ein Kaninchen in einem Käfig unter die Lupe zu nehmen, auch jetzt, als er mir fünftausend Francs für unser Kind reichte, um sein Gewissen zu erleichtern. Lange hatte ich gedacht, dass Arik mir vorherbestimmt war, dass die Zeitlosigkeit, die ich bei der Betrachtung seiner Hände oder seiner Augen empfand, auf etwas Richtiges verwies, auf eine innere Heimkehr oder eben auf das Anhaltende, die Dauer. Was ich aber für das Fortwährende gehalten hatte, war nicht einmal in der Zeit verankert, die auf meiner Armbanduhr ablesbar war. Alles, was in seinem Leben auf mich verwiesen hätte, gab es nach meinem Fortgehen nicht mehr. Und wenn noch etwas von mir, von meinen Briefen und minimalen Hinterlassenschaften übrig geblieben ist, so wird sie, dachte ich damals, niemand mehr mit mir in Verbindung bringen.
Arik hasste Geschenke, ich musste immer so tun, als seien meine kleinen Liebesgaben letztlich gar nicht von mir oder nur nebensächliche Mitbringsel, ohne irgendeine Bedeutung; dabei lief ich tagelang durch Paris, um etwas Schönes für Arik zu besorgen. Aus dem Gefühl heraus, mich in seiner Gegenwart ein bisschen unsichtbar machen zu müssen, wollte ich gleichsam namenlos sein. Damals beruhigte es mich, weil ich glaubte, es entstehe dadurch ein geheimnisvolles Band zwischen uns, das nicht nur unsere Körper, sondern auch unser Wesen zusammenhielt. Ich unterschrieb auch nie meine Briefe an ihn. Ich wusste nicht, dass ich damit von Beginn etwas eingeleitet, in ihm abgerufen hatte, worunter ich nicht nur leiden würde, sondern was auch mich und unser Kind auslöschen musste.
Ich hatte an dieser Auslöschung, ohne es anfangs zu merken, so fleißig mitgearbeitet, als baute ich an einem Haus für eine Großfamilie. Arik wäre aber nie auf Dauer mit mir unter ein Dach gezogen. Seine doppelten Wahrheiten waren mehrfach abgesicherte Selbsttäuschungen. Meine Unbeweisbarkeit und jenes spurlos gebliebene Pariser Dasein haben mich am Ende wachgerüttelt.
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