Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)
Ich wollte aus der Namenlosigkeit heraustreten. Und ich musste feststellen, dass Arik doch alles gesammelt und sogar ein Archiv angelegt hat.
Zwei Jahrzehnte später sitze ich in einer anderen Stadt, in einem anderen Land, am Küchentisch meiner Großmutter und weiß, dass ich den Lücken in Ariks Sätzen zu viel zugetraut und das Fragen und Nachfragen versäumt habe. Vielleicht, denke ich jetzt, hätte ich Dinge erfahren, die mich schon damals verändert hätten. Aber so bin ich in die Wandlung wie in ein Schwert gestoßen worden. Es gibt nur den Weg, den ich gerade gehe, ein anderer ist Zweifel und Flucht. Ich wollte mich nie auf alle Stühle gleichzeitig setzen, meistens war ich glücklich, dass es überhaupt eine Bank gab, auf der ich mich ein bisschen ausruhen konnte. Aber das Damals war meine einzige Zeitform, die Macht der Lücken sprengte meine Vorstellungskraft. Sie unterwarf mich Bedingungen, und heute weiß ich, dass es mir entgegenkam. Ich habe nicht gesprochen. Meine Stummheit fügte sich, und der Widerspruch in Arik kam mir vor wie ein dunkles Zimmer, das zu betreten ich nicht gewagt, aber mir immer vorgenommen hatte. Es erschien mir möglich, ihn zu einem fühlenden Menschen zu machen, wenn ich ihm nur aufzeigte, was ich selbst fühlte. Irgendwann gab ich das Reden auf und hoffte, dass mein bloßes Dasein und das Dasein des Kindes etwas ausrichten würden. Auch das Kind war machtlos, weder ihm noch mir konnte es etwas beibringen. Arik behandelte solche Momente des Lebens genauso wie die Marienkäfer aus meinem Traum. Er hat sich umgedreht, ist einfach gegangen, und alles, was blieb, das waren zerhackte Momente. Das Ende war unausweichlich, kündigte sich zeitgleich mit den anderen Abschieden in Paris an. Nadeshda war nach Berlin gezogen. Silva lebte längst in Saint Louis und feierte ihren Erfolg, die New York Times hatte über ihr Restaurant einen Artikel geschrieben. Hiromis Rückkehr stand auch an, sie hatte immer wieder von ihrem Wunsch gesprochen, nach Tokio zurückzukehren. Wir packten ihre Kartons und brachten sie mit unseren Rädern zur Hauptpost. Langsam leerte sich die Wohnung. Und da ich wusste, dass Nadeshda mir eine Arbeit am Theater beschaffen konnte, rief ich sie an und sagte, dass auch ich nach Berlin kommen würde. Die letzten zwei Wochen verbrachte ich jeden Tag mit Hiromi, die ihr Philosophiestudium im Gegensatz zu mir mühelos zu Ende gebracht hatte. Etwas Geld von meinem Stipendium hatte ich zur Seite gelegt, und Hiromi half mir, den Kirschholztisch in einem Möbel-Taxi zur Gare de l’Est zu bringen. Mit meinem Ersparten bezahlte ich den Transport nach Deutschland. Nadeshda nahm das Riesenpaket in Empfang. Und so erwartete mich bei meinem Einzug der Tisch in Berlin.
Wenn ich heute zurückschaue, besonders jetzt, da ich an genau diesem alten Tisch sitze und wieder an den kleinen Hund, an seinen sinnlosen Tod unten auf der Straße denke, an die Sinnlosigkeit jedes einzelnen Todes, dann kommt mir meine eigene Vergangenheit, die nahe und die ferne, wie eine veraltete Landkarte vor. Ich kann sie nur noch mit Mühe deuten, so, als gehöre sie einer anderen, von mir längst abgelösten Biographie und als sei diese einer fremden Haut eingeritzt, einem ganz anderen Leben, das sich mir aus der Distanz erzählt und nicht meinem eigenen Verantwortungsbereich zufällt. Seitdem ich mich erinnere, nimmt das Picken in meinem Kopf deutlich ab. Das gelegentliche Klopfen in meiner Stirn hat nahezu aufgehört, mich ins Erinnern zu treiben. Ich habe das Bedürfnis, mich auszuruhen und viel zu schlafen. Ich habe mein Kind weggegeben, nie hätte ich ihm und seinem Atem, seinen Augen, seinem Lächeln gerecht werden können. Dieser Atem, diese Augen, dieses Lächeln werden nie wieder Teil meines Lebens werden. Und dafür kann Arik nichts. Ich allein habe mich dazu entschieden, das Kind zurückzulassen, als ich nach Berlin ging.
Die Sonne scheint, und ich will nicht mehr einen Millimeter größer sein als ich es in Wahrheit bin. Noch immer muss ich an den Hund denken, an sein samtweiches, schwarzes Fell. Um es mir selbst zu versichern, dass ich keine Lust mehr auf hohe Schuhe habe, notiere ich es mir sogar in meinem Heft, schreibe mir regelrecht mein Vorhaben ins Innere ein. Mit der Niederschrift ist es wie eine Abmachung, die ich mit mir selbst geschlossen habe, nicht mehr zu rauchen. Nadeshda raucht wieder, dabei hatte sie schon längst aufhören wollen und es auch mehrmals probiert; ihr Problem war
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