Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)
größtes Glück. Ich war sprachlos. Wir sahen uns an, lange, ich brachte kein Wort heraus, aber als ich dann auf sie zuging und fast schon dabei war, sie zu umarmen, trat sie einen Schritt zurück und tat, als hätte sie es nicht bemerkt. Alles, aber auch alles hat sich verändert, sagte sie. Den Satz wiederholte sie mehrmals. Ich glaube, sie merkte es selbst nicht einmal, wie oft sie den Satz wiederholte. Er klang wie ein Mantra, aber es half ihr nicht. Mich überkam das Gefühl, dass sie genau wusste, wie sie mich von sich fernhalten konnte. Es war ein bestimmter Ton in ihrer Stimme, eine alte Höhe, aus der sie mich wie früher in der Kindheit mit den Augen ins Visier nahm. Wenn ich diese Tonlage hörte, schwieg ich, war wieder das fügsame Mädchen, das keine Fragen stellte und das wartete, bis es angesprochen wurde. Zuerst dachte ich, sie rede von Berlin und dem Fall der Mauer. Ich wusste, dass sie in ihrer Jugend mit meinen Großeltern längere Zeit in Schöneberg verbracht hatte und sich ein wenig auskannte. Aber sie sprach nicht über Berlin, sondern über unser früheres Leben. Über Jahre hinweg hatte sie, ganz anders als ich, mit ihren eigenen Augen gesehen, wie sich alles änderte, aber erst jetzt, und zum ersten Mal hier bei mir, schien sie in den fortwährenden Wiederholungen ihres Satzes zu verstehen, was in ihrem Leben unwiederbringlich verloren gegangen war. Statt den Verlust zu empfinden, erzählte sie wieder nur über Mateo. Schon morgens fing sie damit an. Kaum dass wir am Tisch saßen und Kaffee tranken, war sein Name mehrmals gefallen. Sie berichtete Nadeshda und mir von den Leuten, die mit Mateo in dem Sprachverein waren und sich jetzt alle hauptberuflich nur um die Korrektheit der Sprache kümmerten. Das setzte ihr besonders zu. Mateo sei unter den Sprachreinigern der ehrgeizigste und habe zu den Leuten gehört, die öffentlich arme Buchhändler beschimpften, nur weil sie Bücher in kyrillischer Schrift verkauften.
Auf den Fotos, die auf dem Tisch vor mir liegen, leuchten Mateos Augen so zeitlos wie nachdrücklich. Er hatte damals einen wachen Blick. Ich kann die Freude, die von seinem jugendlichen Gesicht ausgeht, nicht mit dem in Verbindung bringen, was meine Mutter erzählt hat. Meine Erinnerung trägt mich zurück zu den Sommern und den unzähligen Tagen, an denen wir unter den Bäumen saßen und stundenlang aufs Meer hinausschauten, zu den Möwen und auf die Wellen, die in unserer Vorstellung miteinander redeten. Das Meer verstand die Sprache der Möwen. Und die Möwen verstanden die Sprache des Meeres. Und wir sahen ihnen dabei zu und freuten uns, wenn Wind aufkam und über uns die Wipfel der Bäume zu hören waren, nirgendwo Stillstand, überall die pralle Bewegung. An einem solchen Nachmittag hat mir Mateo eine blauweiße Perlenkette geschenkt. Irgendwann blieb ich an ihr hängen. Die Perlen sprangen auseinander, flogen in alle Richtungen weg und ich zwang meine Mutter unter Tränen, sofort mit mir nach Triest zu fahren und dort genau diese Kette zu beschaffen. Mateo sollte nicht merken, wie ungeschickt ich mit seinem Geschenk umgegangen war. Die Vorstellung, mir selbst ein für alle Mal die Erinnerung an Mateo und sein Geschenk verbaut zu haben, ließ mich bis Triest bitterlich weinen. In der Stadt fanden wir eine identische Kette. Meine Freude war unermesslich, aber im gleichen Augenblick, in dem ich eins mit meinem Glück war, bemerkte ich, dass auf den vorderen Steinchen zwei kleine Flecken zu sehen waren. Und diese sah ich fortan immer als erstes. Jedes Mal sagte ich mir im Stillen, dass es die falsche Kette war. Irgendwann verlor ich sie, ich merkte es nicht einmal, und als es mir auffiel, war es mir egal, ich war froh, die Flecken nicht mehr sehen zu müssen.
Meine Mutter behauptete, dass Mateo Anfang zwanzig nicht einmal gewusst habe, welche Religion er hatte. Aber jetzt, sagte sie, jetzt kennt er seinen ganzen Stammbaum auswendig und rezitiert ihn im Dorfwirtshaus wie ein Gedicht von Vergil. Dabei sei sein Urgroßvater ein Italiener aus dem Hinterland von Triest gewesen. Aber das blende Mateo wie alles andere einfach aus, ohne einen Widerspruch darin zu sehen. Er ist der große Verfechter der Reinheit und lässt in seinem Stammbaum einfach das weg, was zu seiner neuen nationalen Identität nicht passt. Der Ärger meiner Mutter hatte noch einen anderen, konkreten Anlass. Im ersten Sommer nach dem Krieg verschwand aus der Kommode meiner Großmutter die alte
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