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Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)

Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)

Titel: Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marica Bodrožić
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Mund. Nein, sagte ich, meine Brüder bluten. Mutter verstand nichts, sie dachte, dass meine Brüder im Garten spielten. Sie schüttelte mich. Sag etwas! Hast du wieder die Aussetzer, schrie sie mich an. Mein Kopf fiel nach hinten. Ich sah zum Himmel. Wolkenlos war er, das Blau so tief wie das Meer. Schwindel erfasste mich. Ich rannte mit ihnen in den Garten. Die Frühlingssonne blendete mich. Alles drehte sich in meinem Kopf. Mutter schrie. Tantchen Alina hatte ihren blöden Fernseher an wie immer. Vater tauchte von irgendwoher auf, und sie rüttelten jetzt beide an mir. In der Altstadt, sagte ich. Und dann war alles schwarz und wuchtig umfing mich das Dunkel.
    Als ich wieder zu mir kam, sah ich, dass meine Eltern weinten. Ihre Augen kamen mir unnatürlich groß vor, wie Spielklicker. Meine Brüder hatten viel schönere Zehen als ich. Meine Zehen sind hässlich. Sie hatten so viel schönere Zehen. Zwillingsbrüder. Habe ich das schon erwähnt? Meine Brüder waren Zwillingsbrüder und hatten identisch schöne Zehen. Sie waren immer doppelt. In allem. Dieses doppelte Glück ist jetzt weg. Für immer. Ich kann sie nicht mehr lachen hören. Manchmal höre ich nur die Wellen von damals. Das Meer jener Sommer. Die Augusttage unserer Kindheit in Istrien. Die Wellen sind noch da in meiner Erinnerung. Ich stelle mir vor, dass sie mir noch einmal ihre Stimmen wiedergeben und mein Ohr sie noch einmal hören kann. Das Wasser. Die Wellen. Die Bora. Unser liebster Fallwind. Der liebste Wind überhaupt. Ich höre sein Pfeifen. Aber keine Stimmen. Ich kann mich nicht mehr an ihre Stimmen erinnern. Alles sickert in meinen Kopf hinein, versickert dort, legt sich dort immer tiefer ab, und jeder Tag, der vergeht, überschreibt sie. Sand. Was kann ich davon beweisen, was über die Gegenwart des Glücks im Unglück für mich selbst bewahren? Ich denke heute auch an Ilja, meine erste Liebe, an unseren Treffpunkt hinter der alten Synagoge, daran, dass ich auch Ilja vielleicht nie wiedersehen werde, er aber immer noch lebt. Ein paar Murmeln habe ich noch, die er mir geschenkt hat, als ich dreizehn wurde. Ich habe sie, zusammen mit den Fotos, von Land zu Land mit mir getragen. Auch er hat die belagerte Stadt verlassen. Ich habe von meiner Mutter erfahren, dass er seine ältere Schwester verloren hat und seit ein paar Jahren in Kalifornien lebt, in einer Stadt namens Bakersfield. Als die Belagerer auf dem Jüdischen Friedhof ihre Stellung bezogen, war Ilja ein paar Tage verschollen. Dann tauchte er plötzlich wieder auf. Aber seine Familie ging bei der nächsten Gelegenheit für immer fort, zuerst nach Frankreich, dann nach Amerika, und ich habe ihn seitdem nur noch auf Fotos gesehen. Zuerst hätte ich ihn fast nicht erkannt, alles an ihm sah anders aus, er war hager geworden, streng war seine Stirn in Falten gezogen. Nur seine Augen blitzten noch genauso schelmisch wie damals hinter der Synagoge.
    Die Belagerer lauerten nun täglich oberhalb der Stadt. Mutter und Vater wollten nicht fort. Auf keinen Fall werden wir weggehen, sagte Vater, wir bleiben hier, sagte Mutter. Hier ist unser Zuhause. Hier sind unsere Toten. Ich aß nie wieder etwas, das bluten konnte. Mir fiel gar nicht auf, dass meine Mutter über Jahre hinweg die Namen meiner Brüder nicht mehr erwähnte. Wenn sie von ihnen sprach, dann immer als von ihren beiden Kindern, aber auch das geschah in den letzten Jahren ganze fünf Mal. Sie zieht es vor zu schweigen. Bis sie mich unvermittelt mit unserem Familiennamen ruft. Signorina Filipo sagt sie zu mir, neutralisiert mich auf diese Weise, nimmt mir meinen Vornamen weg, bevor sie wieder Dinge von früher richtigstellt, mich korrigiert und einfach behauptet, dass mich meine Erinnerung wieder einmal getäuscht habe, dass alles anders gewesen ist, ganz anders als das, woran ich mich zu erinnern glaube. Liebling oder Herz, wie sie mich manchmal früher nannte, kommt ihr nicht mehr über die Lippen. Meine Mutter besucht mich hin und wieder in Berlin. Vor einem Jahr fing sie plötzlich an, mir Plastiktüten voller Fotos mitzubringen. Ich habe aufgeräumt, sagte sie, und überreichte mir ohne weitere Erklärungen das erste Kilogramm Polaroids. Ein Blick in die Tüte genügte mir, um zu sehen, dass sie alle in den istrischen Sommern geschossen worden waren. Das Blau des Meeres leuchtete auf jedem Foto. War immer in der Nähe. Wie der Sand. Die Pinien. Die Palmen. Bis zu meinem jetzigen Umzug habe ich versucht, all das zu vergessen. Ich habe

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