Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)
damals die erste Tüte einfach an eine Türklinke in Nadeshdas Wohnung gehängt und beschlossen, nicht mehr an den Inhalt zu denken.
Seit fünf Jahren bin ich hier in Berlin zu Hause. Ich beziehe die dritte Wohnung. Noch immer habe ich es nicht gewagt, nach der Familie meiner Großmutter zu suchen. Ich kenne niemanden von meinen deutschen Verwandten. Noch sind es nicht meine Toten. Was habe ich hier? Wer kann ich noch in diesem Netzwerk aus Sprache und Stille, aus Wissen und Erinnern werden? Ich habe hier nur Kartons, keine Toten, nur Lebende. Das erste Mal seit zwanzig Jahren fühle ich mich an einem Ort zu Hause. Immer seltener empfinde ich Schuld, weil ich gerne hier lebe. Manchmal bin ich glücklich wegen nichts. Seit Jahren habe ich mir so das Glück vorgestellt, still und mit geschlossenen Augen erwarte ich es. Die Schwalben liebe ich, Mischa Weisbands altes Vogelbuch, Nadeshdas Ehrlichkeit, ihr Lächeln, das Lächeln ihres Sohnes, in dem ich die Augen seines Vaters aufblitzen sehe, vor allem, wenn es aus ihm heraussprudelt und er mir auf unseren kleinen Spaziergängen in unserem Viertel auf der Stelle, wie er sagt, alles erzählen will, was er in der Schule erlebt hat.
Berlin ist laut und still. Im Hof, wo einige neue und viele alte Bäume wachsen und die Vögel, wie auf einem anderen Erdteil, von den Menschen getrennt leben, ist es überwiegend leise. Ich werde Teil dieses sanften Windes, der die Wipfel im Hof sprechen lässt. Die Vögel höre ich singen, die Kronen sind ihre Häuser. Hier wohnen sie den ganzen Sommer. Die großen Flügeltüren in meiner neuen Wohnung habe ich selbst gestrichen. Der Holzboden ist honigfarben. Ich weiß schon, wo die Dielen knarren. Im ganzen Haus herrscht eine seltsam schöne Stille. Nur die Schritte des westdeutschen Läufers sind manchmal im Treppenhaus zu hören. So beruhigend empfinde ich ihn in seiner Freundlichkeit. Woraus ist die Freundlichkeit entstanden? Wem ist sie geschuldet? Ein leiser erster Abend in meinen neuen Räumen. Sommerluft, aber keine Hundstage, keine Hitze wie früher, nichts, das drückend oder eine Last wäre. Draußen vor meinem Fenster fällt langsam die Nacht in die Wipfel der Bäume. Silberpappeln. Birken. Sogar ein uralter Maulbeerbaum steht im Hof. Mitten in Berlin. In meinem Hinterhof. Anfangs dachte ich, das sei eine Seltenheit, aber von Mischa Weisband weiß ich, dass es mehrere Stellen in der Stadt gibt, an denen Maulbeerbäume stehen. Ich werde sie alle suchen gehen. Genauso wie die Blauglockenbäume. Zeitlebens sind Vögel und Bäume meine Begleiter. Einmal möchte ich eine große Reise machen und alle Bäume meines Lebens besuchen, in alle Länder fahren, in denen sie stehen und ohne mich weiterleben. Werden sie mich erkennen? Die Bäume von Paris. (Mischa, der mir vom Leben zugewiesene Vogelkundler, hat sie mir gezeigt.) Die Bäume von Zagreb? (Tante Jana hat sie mir gezeigt, direkt beim Nationaltheater stehen die seltensten Rosskastanien.) Die Vögel und die Bäume meiner Geburtsstadt. (Das Leben hat sie mir gezeigt.) Die Bäume der Donaustadt. In den Auen. Die Bäume an den Orten meiner Kindheit und Jugend. (Das Leben hat sie mir gezeigt.) Istrien und Großmutters Maulbeerbäume (mit den weißen und roten Früchten)! Ihr Quittenbaum. Die Sauerkirsche. Der Mirabellenbaum. Das Leben. Hat sie mir gezeigt. Das Leben hatte immer ein Gesicht. Einen Namen. War ein Mensch.
Was ist mit den Orten, an denen ich seit meiner Geburt gewesen bin? Versammeln sich die Vögel noch an den gleichen Bäumen wie sie es früher, in meinem ersten Damals, taten? Nein. Nicht in allen Bäumen. In der Kindheit habe ich geglaubt, dass Bäume ewig leben. Als eine Nachbarin gestorben war und wir ihr auf dem muslimischen Friedhof kurz vor Kriegsausbruch die letzte Ehre erwiesen hatten, erfasste mich auf dem Weg nach Hause von Innen heraus eine Einsicht. Ich dachte, dass die Bäume das Gedächtnis der Menschen weitertragen, glaubte, dass sie es bewahren, auch und gerade für die Toten. Dafür aber, stellte ich mir vor, müssen sie immer weiter wachsen und niemand darf sie fällen, unter keinen Umständen. Aber dann ist es Krieg und Winter. Nach drei Jahren geht das Brennmaterial aus. Die Bäume werden gefällt. Winter für Winter. Der Schnee fällt. Die Gassen werden weiß. Der Taubenplatz ist zugig. Und der Wind pfeift sein beißendes Orgelwerk durch die Luft. Die Menschen verbrennen Reifen und Schuhe, um sich an offenen Feuerstellen etwas kochen zu können. (In
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