Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)
einem Gottesgeschenk gleich. Benito Mussolini unterstützte den fanatischen Paveli ć . In ganz Europa galt er längst als skrupellos und amoralisch. Auf das Konzentrationslager Jasenovac war er stolz. Achtzigtausend Menschen kamen dort ums Leben und es gab mehrere Todestransporte nach Auschwitz. Unzählige Juden, Roma, Serben und kroatische Oppositionelle verloren ihr Leben. Der Freund überlebte und nutzte die erste Gelegenheit, sich bei meinem Onkel Milan zu bedanken. Er war ein angesehener Politiker. Sein einstiger Verfolger Ante Paveli ć hingegen wurde in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Das bekümmerte ihn wenig, hatte er nach Mussolini ganz schnell einen neuen Ersatzvater gefunden. In Argentinien stand er unter dem Schutz von Juan Domingo Péron. Als der gestürzt wurde, begab sich Paveli ć in die Obhut des Spaniers Francisco Paulino Hermenegildo Teódulo Franco y Bahamonde Salgado Pardo, besser bekannt als General Franco.
Mein Vater wusste nicht mehr genau, wie es Onkel Milan und Tante Sof ij a gelungen war, auf die Schnelle Großmamas alten Küchentisch im mintfarbenen Lada unterzubringen. Aber er erinnerte sich noch immer sehr genau an einen beeindruckend irrationalen Schreianfall von Tante Sof ij a, die nicht einmal ihre Lieblingskleider eingepackt hatte, aber darauf bestand, dass der Tisch nach Frankreich müsse. Ich konnte mir nicht ausmalen, was für ein Schicksal meinen Onkel Milan und meine Tante Sof ij a auf der Kahlen Insel erwartet hätte. Andere Menschen, erklärte mein Vater, waren wegen ähnlich harmloser Sachen in die Strafkolonie geschickt worden. Viele stürzten sich irgendwann von den Klippen der Insel in die Fluten der Adria. Der Selbstmord war ihre einzige Möglichkeit, in Würde wieder sie selbst zu werden. Das passte für mich gar nicht zu unserem Land, es wirkte wie etwas auf mich, das anderswo geschehen sein musste, und ich konnte mir nicht vorstellen, dass das Meer, an dem wir unsere glücklichen Sommer verlebten, anderen zum Grab geworden war.
Vater erzählte mir zum ersten Mal ausführlicher von damals. Ich konnte das Schluchzen meiner verängstigten Großmutter in Istrien geradezu hören, konnte meine Tante Sof ij a vor mir sehen, den alten Lada und den Kirschholztisch. Kaum ein anderes Auto kam uns auf den Landstrassen entgegen. Der Himmel war durchsetzt von tanzenden kleinen Wolken. Schwalben sahen wir so viele wie nie zuvor. Das war unser Sommer, diese Reise, quer durch Europa, unsere letzte gemeinsame Julifahrt. Gemessen an der Vergangenheit, lebten wir in friedlichen Zeiten. Alles war still auf jener Sommerfahrt, so still, dass ich den Flügelschlag der Schwalben hören konnte, selbst der Wind schien ihnen zu lauschen und sich dem Wogen der Bäume zu überlassen, das sich in mich einschrieb wie es sonst nur das Meer getan hatte, die Wellen, die sich in den Sommern an unseren Füßen brachen und denen das unbändige Lachen meiner Brüder folgte, ihr Übermut, ihre unermüdliche Lust, sich wieder und wieder ins Wasser zu werfen. Vater und ich schwiegen viel. Es sollte unsere letzte gemeinsame Reise sein, unser letztes gemeinsames Schweigen zu zweit.
Wir fuhren einen Monat später noch einmal nach Frankreich. Dieses Mal kamen meine Mutter und meine Geschwister mit. Es wurde eine laute Familienfahrt. Übermütig sang ich mit meinen Brüdern das Jugoslawien-Lied von Lepa Brena. Je fremder die Landschaften wurden, desto öfter sangen wir es. Wenn einer von uns damit aufhören wollte, fing ein anderer wieder von vorne an. Das Lied war ein Lobgesang auf unser Land und hieß Živela Jugoslavija . Es war uns egal, ob es Propaganda war oder nicht, die Zeilen waren naiv, machten aber gute Laune. Vater sagte, Lepa Brena werde im Alter sehr hässlich aussehen. Mutter lachte, weil sie das nicht glauben konnte. Lepa Brena war unsere jugoslawische Marilyn Monroe. Es war also unvorstellbar, dass wahr werden konnte, was Vater so wie eine kopflose Fliege dahergesagt hatte. Aber Lepa Brena war den Jugoslawen nicht nur wegen ihrer Schönheit wichtig. Auch die Menschen in Rumänien verehrten sie. Sie war eine besondere Vorbotin der Freiheit. In einem hautengen goldenen Kleid sang sie 1984 in Temesvar vor sechzigtausend Menschen auf einem Kran das gleiche naive Lied wie wir auf unserer Sommerreise. Und jene Menschen, die ihr in Temeswar zujubelten, gingen als erste auf die Straßen und stürzten den verhassten Diktator wie meine Großmutter sagte: mit ihren wie Fenster weitgeöffneten Herzen.
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