Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)
Hochhäusern treffen sie Absprachen über die Reihenfolge und die Dauer, sie halten sich bis zum Ende des Krieges daran.) Wind weht. Mützen fliegen weg. Die Menschen frieren. Die Belagerung dauert. Drei Jahre lang. Die Bäume fallen um. Fallen als Tote auf die Straßen. In meiner Vorstellung sind sie gefällte Gedächtnisse, auf dem Asphalt ruhen sie nun. Der Winter ist ohne Gnade. Die Schneeflocken fallen vom Himmel wie ein von langer Hand vorbereiteter Fluch. Auch die Kinder haben keinen Spaß mehr an den Schneeflocken. Wenn sie auf ihren Gesichtern landen, fühlen sie sich an wie kalte Insekten. Schmelzend und böse verdoppeln sie ihr Leid. Die Bäume sind jetzt die Glut im Ofen. Können keine Zeugen mehr sein. Haben keine Ohren. Es sind Schreie zu hören. Menschen, die sich auf dem Taubenplatz getroffen haben, versuchen mit den umliegenden Bergen zu sprechen. Mein Vater hat die Belagerung nicht überlebt. Mutter sagt, er habe geweint, als er mitbekam, dass die Menschen am Anfang zu den Bergen wie zu alten Göttern hinaufgesehen und mit ihnen gesprochen hätten. Das hier ist eine europäische, eine zivilisierte S-T-A-D-T ! So etwas haben sie den Bergen sagen wollen. Diese Stadt ist keine Wildnis! Sie gehört zur ZI-VI-LI-SA-TION ! Ich habe meinen Vater nie weinen gesehen. Auch meine Mutter sah es damals zum ersten Mal. Die Leute haben draußen weiter geschrien. Hört ihr uns! Das hier ist eine Stadt! Das hier ist STADT ! Das hier ist STADT ! Aber die Berge hörten sie nicht. Mein Vater weinte kein zweites Mal.
Die Fotos von damals sind mir heute nicht zufällig in die Hände gefallen. Es ist mein erster Tag in den neuen Räumen, und ich habe das Gefühl, dass die alten Magneten in meiner Erinnerung sich selbsttätig ins Spiel bringen. In der leeren Wohnung wirken die honiggelben Dielen friedlich. Ich wünsche mir plötzlich, dass alles immer so leer bleibt und alles Überflüssige verschwindet, sich nie bei mir einnistet. Was brauche ich wirklich? Welche Farben machen mich glücklich? Und warum? Den Dingen auf den Grund gehen, das will ich tun, nicht einfach immer nur alles sammeln und ablegen. Alle Schachteln und Schatten ansehen. So leben, dass ich in jedem Moment mit einem Koffer verschwinden kann. An nichts hängen. Werde ich es einmal können? Die Kartons sind noch nicht ausgepackt, dabei hatte ich mir fest vorgenommen, heute wenigstens ein paar zu leeren. Die Fotos zwingen mich in die Verlangsamung. Ich halte inne. Ich sehe. Das Sehen ändert alles. Meine erste Stadt. Familienfotos. Paris, Fotos von Arik, der mich in der rue Fagon zusammen mit Nadeshda gemalt hat. Fotos von Nadeshda, sie, mit ihrem narkotisierten Blick, den sie immer hatte, wenn von Arik die Rede war, so als hätte er sie von einem Schmerz erlösen können, den sie aber selbst nicht kannte, den sie nicht kennen konnte und an dem sie sonst damals ertaubt wäre. Fotos von Hiromi an der Philosophischen Fakultät. Wir alle in Sophies Restaurant an der Bastille. Unser täglicher Treffpunkt. Und Fotos von meinem alten Freund Mischa Weisband. Seine Dora, neben ihm.
Immer wieder habe ich Mischa nach meinem Fortgehen gefragt, ob er mich in Berlin besuchen kommt. Ich wollte ihm Berlin zeigen, so wie er mir damals Paris gezeigt hat. Aber unsere Situationen waren nicht vergleichbar. Ich kannte damals die Straßen von Paris nicht, während Mischa in Charlottenburg geboren ist. Als er endlich mit Dora nach Berlin kam, war er es, der mir die Stadt seiner Kindheit und die Maulbeerbäume am Schlosspark und die Blauglockenbäume im Volkspark am Weinberg zeigte. Weder den einen noch den anderen Baum hatte ich in Berlin vermutet. Mischa kannte noch jede Straße, jeden Park, jeden See. Als wir mit Nadeshda und Dora über den Savignyplatz gingen, spürte ich, dass es wirklich stimmte, was sie mir einmal in Paris über ihren Mischa gesagt hatte. Weisband war kein Mensch, der die Straßen und die Sprache seiner Kindheit hassen konnte.
Ich schaue mir das Album aus Istrien an. Hunderte von Fotos. Manche sind mit der alten amerikanischen Brownie meiner Mutter geschossen worden. Sommerfotos eines ganzen Jahrzehnts. Die Plastiktüten, die meine Mutter mir mitgebracht hat, hängen an der Tür des neuen Arbeitszimmers. Vier von diesen Tüten habe ich. Im Laufe der Zeit hat sie mir die ganze Welt von früher überbracht. Ich habe Angst davor, sie anzusehen. Es macht mich traurig, dass meine Mutter alles wahllos in die Tüte gestopft hat. Sie muss zu Hause die Alben
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