Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)
illegal, es war lebensgefährlich. Mein Onkel wurde verhaftet und musste stundenlang vor einem mehrköpfigen Komitee wiederholen, dass Tito schlauer als Stalin war. Um ein Haar wäre er auf der Kahlen Insel, jener berüchtigten Hölle der Adria, gelandet, auf der vierzig Jahre lang eine Strafkolonie zum Mediterran wie die Sonne zum Sommer gehörte. Vater erzählte mir von einem Dichter aus Belgrad, der ein paar Jahre später Präsident wurde. Er habe in den Achtzigerjahren die Insel aufgesucht, sich aber als blind für die Wirklichkeit erwiesen. Er sah nichts anderes als die verschwenderische Schönheit des Südens: Palmen, Pinien und Zypressen. Die gleiche Sonne, dachte ich, begleitet Vater und mich jetzt auf unserer Reise. Ich schaute aus dem fahrenden Auto. Der Fall meines Onkels klang wie eine Erzählung für mich, wie etwas, das in einem Buch durch die Zensur geschwärzt worden war. Onkel Milan kam mit dem Leben davon. Das war ein Wunder, selbst in den Augen jener, die voller Inbrunst an den Kommunismus geglaubt und ihn als den einzig möglichen und notwendigen Gegenentwurf zum Faschismus angesehen hatten.
Das Wunder hatte eine lange Vorgeschichte. Mächtige Leute hatten sich für meinen armen Onkel eingesetzt. Anfangs verstand er selbst nicht, wer ihm half. Die Geheimpolizei gab ihm nach zwei, drei laschen Befragungen zu verstehen, dass man ihn in Ruhe lassen werde, wenn er bereit sei, das Land für immer zu verlassen. Noch bevor er sich zu einer Entscheidung durchringen konnte, verlor Tante Sof ij a ihr Engagement als Opernsängerin. Die beiden packten schnell einige Sachen zusammen und kamen in ihrem alten, mintgrünen Lada zu uns. Wir konnten uns alle noch von ihnen verabschieden. Ich erlebte zum ersten Mal die beunruhigenden Absencen, die mich später mehr als alles andere zu mir selbst führten. Aber damals gab es mich nicht in den Lücken, und alles, was ich mit meinen Gedanken berührte, war ein schwarzes Nichts. Ich hatte immer gedacht, dass ich über die Lücken einfach hinweggehen könnte, langsamen Schrittes, wie über einen gerade zugefrorenen See. Aber ich habe nicht gewusst, dass die Lücken irgendwann schmelzen, dass man einbrechen kann. Nur eine Ahnung hatte ich immer, ein Wissen, das mit der Hoffnung verbunden war, in meinem Inneren einen sättigenden Zustand zu erreichen, einen Punkt der Erlösung, von dem aus alles genau erkennbar war – mein Weg, meine ganz eigene Landkarte, meine Waffe gegen das schwarze Nichts.
Jetzt weiß ich, dass ich diesen Weg damals nicht sehen durfte. Das war die Prüfung. Jeder kann einen Weg gehen, den es schon gibt, aber es gibt ihn nur, weil andere ihn gegangen sind. Ich konnte meinen Weg nur mit geschlossenen Augen finden, mit dem dunklen Winter in mir, der meine Landkarte solange belagerte, bis ich bereit war, auf das zu verzichten, was Menschen gemeinhin ihre Zukunft nennen. Es hilft mir bis heute kein gestempelter Pass dabei, keine einmal erlernte Grammatik.
Der Punkt der Erlösung ist in meinem Inneren versteckt und in meiner Stirn spricht er zu mir, zeigt mir alles, was vor mir liegt, ohne mir genaue Namen zu nennen. Er ist jetzt ein Kompass in mir. Ich habe ihn nie vorher bemerkt. Vielleicht war er auch früher da, in einem Versteck, jenseits meiner Sprache. Jetzt ist er zuverlässig, er zeigt mir die Straße, den kleinen Supermarkt, den Baum im Hof, das Steinchen im Schuh. Und er ist mit dem Punkt in meinen Fingerkuppen verbunden, mit Nadeshdas Ohren, mit ihrem zärtlichen Blick, mit Ezras Lachen, mit Mischa Weisbands altem Vogelbestimmungsbuch. Der Punkt ist immer dort, wo nichts da und alles möglich ist, überall, an jeder Stelle, an der mir Innen und Außen als ein Ort begegnen, so, wie mir damals mit meinem Vater der Sommer als ein unendlicher Zeittunnel vorkam, der Augenblick immerwährend, jenseits irgendeiner Begrenzung.
Damals war es auch Sommer, jener Sommer, in dem meine kleinen Lücken begannen und Mutter mich immerfort auf die Risse in meinem Bewusstsein inspizierte. Ich hatte keine Ahnung, was dieser Abschied von Onkel Milan und Tante Sof ij a zu bedeuten hatte, wie endgültig er war, begriff ich erst Jahre später. Ein entfernter Verwandter, ein überzeugter Partisan und Kommunist der ersten Stunde, hatte während des Zweiten Weltkriegs einen jüdischen Partisanenfreund in seinem Haus versteckt. Zu einem Zeitpunkt, als sich niemand mehr traute, Juden zu helfen und die kroatischen Faschisten von Ante Paveli ć angeführt wurden, kam das
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