Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)
Sie war sich sicher, dass Lepa Brena dazu beigetragen hatte, das Unüberwindbare zu überwinden. Unsere Monroe singt noch immer. Aber leider sind Vaters Worte von damals wahr geworden. Sie ist nicht mehr schön, über ihre Lieder reden nur noch die wenigsten, vielmehr geht es um ihre mit Silikon bearbeiteten Lippen und die von Botox gelähmte Stirn. Mein Vater konnte damals natürlich nicht ahnen, dass nicht das Alter, sondern solche Eingriffe sie verunstalten würden. Es fehlte ihm dafür schlicht an Vorstellungskraft. Noch heute lässt meine Großmutter nichts auf Lepa Brena kommen. Niemand anderer als sie hatte die Rumänen in die Freiheit geführt! Dafür gebühre ihr Respekt.
Nach unserer Reise ist alles anders gekommen, als wir es gedacht haben. Meine Wünsche sind ein Luxusgut geworden. Ich bin zum Studieren nach Paris gegangen, aber nicht weil ich es geplant habe, sondern weil ich bald schon keine andere Wahl hatte. Als glückliche Ahnungslose kehrten wir damals nach Hause zurück. Unsere kleinen Einkäufe aus der Galérie Lafayette trugen wir wie eine kostbare Beute ins Haus. Wir saßen im Garten und tranken fröhlich Kaffee. Zwei Tage später erkrankte meine bosnische Großmutter. Im folgenden Winter starb sie. Vater bekam ein kleines Erbe und eröffnete mit diesem Geld für mich ein Konto bei der Crédit Lyonnais. Wir hatten nicht viel Zeit für unsere Trauer.
An einem stillen Nachmittag Mitte März hörten wir plötzlich Schüsse. Die ersten Sonnenstrahlen des Frühlings hatten uns nach draußen gelockt. Meine Brüder spielten am Fluss. Ich war mir anfangs sicher, dass die Schüsse aus dem Fernsehgerät unserer halbtauben Nachbarin Alina gekommen waren. Ihr Fernseher war an die Musikboxen ihres Enkels angeschlossen, der ein Fan der Sex Pistols und Ramones war. Tantchen Alina schaute ständig alte Filme im Fernsehen, und wir waren gezwungen, sie in voller Lautstärke zu ertragen. Schon an den Nachmittagen, wenn Hardy Krüger und Curd Jürgens auf ihrem Fernsehschirm zu sehen waren, war sie in Aufregung versetzt und vergaß alles um sich herum. Die legendäre Schlacht an der Neretva, die für die jugoslawischen Partisanen den Wendepunkt des Krieges darstellte, war ihre große Obsession, der sie nachgehen konnte, weil das Staatsfernsehen sie geradezu täglich mit ihr teilte. Tantchen Alina konnte immer über Tito und die berühmte Schlacht reden. Auch wenn sie mir damit auf die Nerven ging, mochte ich sie doch, denn sie war die einzige, die meine Absencen nicht beachtete, immer drauflosredete, druckreife antifaschistische Monologe von sich gab und mir auf diese Weise eine natürliche Abscheu vor den Namen Hitler und Mussolini einpflanzte.
Aber an jenem Märznachmittag waren die Schüsse alles andere als inszenierte alte Partisanenschüsse. Den meisten Menschen ging es wie mir. Keiner von uns glaubte an echte Schüsse. Es schien, als hätten wir den Zehn-Tage-Krieg in Slowenien aus dem vergangenen Jahr auf den Mars verlegt und die Vorkommnisse an der Donau und in Vukovar, die totale Zerstörung dieser Stadt, das Massaker im Lebensmittelkombinat, das noch im November für Erschütterung und Trauer gesorgt hatte, einfach jenseits unseres Planeten und in eine andere Galaxie verortet.
Auch meine Eltern wollten es nicht wahrhaben, dass eine reale Bedrohung für unsere Stadt bestand. Dann fing alles an, Alltag zu werden. Wir gewöhnten uns an Geschichten, in denen erwachsene Männer mit Totenköpfen Fußball spielten. Meine Brüder spielten auch Fußball, aber mit einem normalen Lederball. Das ging eine Weile gut. Dann traten sie auf eine Mine. Ich war zufällig in der Nähe. Ein paar Straßen weiter weg hatte ich mich mit meinen Freundinnen zum Kaffee verabredet. Auf dem Rückweg sah ich meine Brüder. Auf dem Boden. Warum liegen meine Brüder auf der Straße?, dachte ich, auf dem Boden liegen sie und sagen nichts.
Eine kleine Menschenmenge hatte sich um sie versammelt. Zwischen zwei fremden Beinen sah ich die Füße meiner Brüder. Ich sah zuerst ihre Füße. Zuallererst die Füße. Die Füße meiner beiden Brüder waren schön. Ihre Zehen. Was für schöne Zehen sie haben, dachte ich. So flaumweich und zart wie zarte Federn. Ich ging zu ihnen. Ich küsste die Zehen. Was für schöne Zehen sie haben, dachte ich und dachte irgendwann nur das. Ich konnte nichts anderes mehr denken, ich glaube, es ging tagelang so weiter. Als ich zu Hause ankam, sagte Mutter, dass ich blute. Am Mund, sagte sie, du blutest am
Weitere Kostenlose Bücher