Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)
ist eine neue Sprache ein neues Leben, eine Brücke zu etwas anderem, einem Dasein, das sich sonst nie zeigen und einem nicht die Gelegenheit geben würde, sich jenseits der Orte und Menschen zu denken, die scheinbar so fest zu einem gehören wie der eigene Name, der eigene Pass, die Sprache, die uns in die Wiege gelegt ist. Es tat mir weh, dass Mateo dieser Sprachfanatiker geworden war und sogar meine Mutter, die immer auf ihre Sprache achtete, zu einem hassenden Menschen gemacht hatte. Und plötzlich musste ich wieder an Arik denken, daran, was ich bei unserem letzten Treffen erlebt und in seiner Anwesenheit gefühlt hatte. Ich glaube, ich habe durch jenen tiefen Moment der Verbundenheit, in dem unser Unglücksmagnet gesprengt worden war, verstanden, dass die Liebe einen Menschen immer an einen Punkt bringt, an dem er noch immer eine Chance hat, auch vor sich selbst in seiner Nacktheit zu bestehen. Die Zeit nimmt alles mit, reißt es für immer fort, niemals kann sie anhalten, niemals Arik, Ilja oder Mateo alles sagen, was ich ihnen sagen könnte.
Bevor meine Mutter nach Hause zurückkehrte, ging sie los, um das Geburtshaus von Oma Inge zu suchen. Sie hatte sich bisher immer verweigert und mich zurechtgewiesen, wenn ich es vorgeschlagen hatte. Nadeshda brachte Ezra mit, und wir gingen alle zusammen los. Ich habe nie erfahren, was meine Mutter in jenem Moment empfand, als sie das Haus ihrer deutschen Vorfahren sah. Sie hat es mir nicht erzählt, und ich habe sie auch nicht danach gefragt. Alles, was sie verschwieg, spürte ich als Last auf ihren, bald auch auf meinen Schultern. Eine schöne Straße ist das, in der sie das Licht der Welt erblickt hat. Das war alles, wozu sie sich hinreißen ließ, alles, was sie zu ihrer eigenen Herkunft sagen wollte.
Meine Mutter schien immer intuitiv zu wissen, auf welche Weise sie von ihren Gefühlen ablenken konnte. Dass die Straße schön war, sah man auch ohne einen eigenen Lebensbezug. Dann reiste sie ab und versprach uns, bald wiederzukommen. Sie hinterließ eine Leere in mir, die mir die Kehle zuschnürte. Und erst jetzt, in meiner neuen Wohnung, verstehe ich, dass der Krieg für meine Mutter noch immer Gegenwart ist, er dauert bis heute an. Ich habe sie mitten im Frieden an den Krieg verloren.
Die Fotos auf dem Küchentisch habe ich inzwischen sortiert. Der Tag geht zu Ende. Die Ordnung vor mir entspricht nicht der Ordnung in meinem Inneren. Alle Bilder sind überholt. Sie gehören mir nicht mehr, sind Teil der Vergangenheit. Ich höre dennoch immer deutlicher das Meer. Seine in mich eingeschriebene, unumstößliche Gegenwart. Und die Stille zwischen den Wellen. Und ich bin, allen neuen Geschichten über Mateo zum Trotz, doch der Mensch geworden, der ich bin, weil wir damals unter den Bäumen saßen, weil er war, wer er war, und ich mit ihm Zeit verbringen und ihm unsinnige Ratschläge erteilen konnte. Mateo ist jetzt in diesem Verein, er reinigt hauptberuflich die Sprache. Ihre Schönheit und Bewegung werden immer größer sein als er. Ich kenne einen anderen Mateo, ich weiß noch genau, wie seine Augen wärmen konnten, damals, als ich seine Möwenkomplizin war. Ob ich ihn wiedererkennen würde, das kann ich nicht sagen. Aber ich weiß, dass er mein Freund war, dass die Sommer mit ihm echte Sommer waren und dass niemand, nicht einmal Mateo selbst, die Erinnerung daran zerstören kann. Es gibt einen Kern in allem, der sich einer solchen Zerstörung entzieht, er leuchtet wie ein kleiner Kiesel, ein Steinchen, das unter tausend Steinchen entdeckt werden muss, ein Steinchen, das uns alle überleben wird – auf dem Meeresgrund, ohne Namen, als ein Wort, in dem alle Wörter geborgen sind.
siebter tag
Die Vögel singen, nichts bringt sie von ihrem Gesang ab. Die Stadt, in der ich lebe, ist nicht für das Nachtlied eines Wanderers gemacht. Aber die Vögel sind alle da und später, wenn es dunkel ist, denke ich, jetzt, am siebten Tag in meinen neuen Räumen, später werden sie alle schweigen, sich einen Baum suchen, ihren Vogelbaum, in dem sie die Nacht verbringen und sich von ihrem Rotieren und Herumfliegen erholen werden. Die breiten Bürgersteige von Berlin kommen mir nach den Jahren in Paris vor wie halbe Straßen, so geräumig und wohltuend großzügig erstrecken sie sich. Nach Jahren der Enge ist das ein Augenvergnügen, sogar meine Lunge freut sich. Der Platz, den es auf den Bürgersteigen und in der ganzen Stadt gibt, lässt mich ruhiger atmen. Tiefer, so dass ich
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