Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)
gespielt. Und wir sind schon einen langen Weg miteinander gegangen. Seine Augen funkelten, sie waren kleine schwarze Knöpfe, die noch auf einmal kupfern und grünlich aufblitzten. Ich fühlte in der Zerbrechlichkeit jenes Moments die Anwesenheit des Glücks in unserem Leben, wusste um den leuchtenden Faden, der uns alle verband und beständig zusammenhielt. Am anderen Morgen flogen Dora und Mischa wieder nach Paris.
Nach meinem Spaziergang zum Wittenbergplatz bin ich erschöpft. Ich lege mich hin, ich habe beschlossen, eine mediterrane Siesta an den Nachmittagen einzuführen. Das Telefon klingelt. Nadeshda will wissen, wie es mir geht. In meiner Küche sitze ich dann lange am Kirschholztisch, rede mit meiner Freundin, erzähle ihr, dass ich neuerdings an den Nachmittagen von einer tief in den Knochen sitzenden Müdigkeit überfallen werde. Die Sonne scheint mir auf die Stirn. Seit Ariks Begräbnis werde ich von dieser Müdigkeit kontrolliert. Sie zwingt mich innezuhalten. Und wenn ich mich im Vögelchenzimmer auf den Boden setze, weiß ich manchmal nicht, ob ich wach bin oder ob ich schlafe. Manchmal verdreht sich die Welt und ich bin wach, wenn ich schlafe, und ich schlafe, wenn ich wach bin. Die Müdigkeit ist eine Lehrmeisterin. Sie erzählt mir mein Leben in den Lücken, die Dinge, die ich am liebsten vergessen würde, zusammen mit meinem Körper überlistet sie meinen Verstand, der immer weiter will, weiter gehen, weiter schwimmen, weiter reiten, weiter fahren. Weiter, immer weiter. Aber wohin wollen wir eigentlich immer alle? Und warum so schnell? Und warum immer alle mit einem genauen Ziel? Meine Müdigkeit zwingt mich hierzubleiben. Sie bricht in meine Gelenke ein, eine Diebin, die mir den sonnigen Tag stiehlt. Dafür hielt ich sie lange. Aber im leeren Zimmer weiß ich, dass es anders ist. Mischas Formulierung fällt mir ein, sein Satz von der lebenslang erworbenen Müdigkeit. Niemand wird sie los, sie vermehrt sich einfach, sammelt sich an, gleich Vögeln, die ihre Orte haben und die sich nicht von ihrer Route abbringen lassen. Aber zum ersten Mal kommt mir diese Müdigkeit wie eine Schwelle zu einer anderen Welt vor. Was liegt hinter der Schwelle? Dunkelheit. Und dann? Licht. Und dann? Eine Welt voller Vögel. Ein Paradies. Und dann? Gibt es etwas dahinter? Stille. Ein ruhendes Meer. Jenseits der Anklage. Schlafen. Aufwachen. Über die Mitarbeit der eignen Zellen zur Dankbarkeit kommen. Die Zellen schlafen nie. Jede Membran hat eine Sprache, ein Grenzwärter bewacht den Transfer. Ich bin da nicht gefragt. Soll der Körper müde sein. Soll er einmal der Handelnde sein. Das gefällt mir. So ruhe ich mich aus. Die Müdigkeit mag ich. Vor lauter Suchen bin ich über der Liebe müde geworden. Wie werde ich wach? Wie kann mein Körper wieder einem anderen liebend vertrauen, das frage ich mich, und ich weiß, dass ich weit von der Antwort entfernt bin, weil ich mich das frage, was ich mich frage.
Als wir von der Beerdigung kamen, waren wir anfangs wie gelähmt. Es war nicht allein Ariks Tod, der uns auf uns selbst verwies, es war durch ihn auch die Zeit, die uns an eine neue Schwelle setzte, die nicht nur unbekannt war, sondern uns auch in eine andere Tiefe warf, an der wir alles neu sehen und neu bewerten mussten, bis wir schließlich jedes Urteil aufgaben. Es gab keine eindeutige Wahrheit. Und ich würde aufhören müssen, nach ihr zu suchen. Arik war alles in einem, ein Lügner und ein Liebender. Mein eigenes Selbst erschien mir deutlicher als je zuvor wie ein großes Rätsel, größer als jede Verstörung, die ich mit Arik erlebt hatte. Und jetzt dachte ich an unser Kind, mit dem fast gleichen körperlichen Empfinden der Ohnmacht wie an jenem verregneten Tag in Bièvres, daran, dass ich das Bündel an die fremden Menschen weggegeben hatte, ohne mir ihre Gesichter anzusehen. Jetzt kam mir meine damalige Entscheidung wie das Zeichen meiner inneren Leere vor. Sie hatte mich von Innen her einzementiert. Nicht nur kopflos war ich nach der Geburt des Kindes gewesen, ich hatte auch alle Regungen meines Körpers willentlich unter meine Kontrolle gebracht, hatte ihn gezwungen, alles zu tun, was ich von ihm wünschte. Keine Trauer. Keine Tränen. Keine Klage. Das bin ich gewesen. Immer den Blick auf die Weite des Himmels. Aber Arik hat sie mir gezeigt, diese Mauer in meinem Inneren, er hat solange an ihr weitergebaut, bis ich sie bemerken musste. Und dann brach sie ein, brach in mir weg, ich war nicht vorbereitet.
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