Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)
Würfelbuden und eine Wackeltreppe, die er mit Furcht und Faszination betrachtete. Mit seinem Vater sah er hier sogar Ende der Zwanzigerjahre einen Boxkampf mit Max Schmeling, aber seine ganze Liebe, das hörte ich an seiner weichen Stimme, galt einem Puppenspieler namens Alfredo Bannenberg, den er so oft sehen wollte, dass seine Mutter sich irgendwann weigerte, noch einmal an das Ostufer des Halensees zu fahren. Der Park wurde bald endgültig geschlossen. Mischa hat den Puppenspieler nie wieder gesehen. Ein Vergnügungspark, sagte er plötzlich auf Deutsch, konnte bei ihnen nur als Schandfleck Karriere machen. Das war er. Sein erster Satz in deutscher Sprache. Der Satz, auf den ich so lange gewartet hatte. Er enthielt alles, was ich mit Mischa Weisband verband, seinen ureigenen Witz, seine Ironie, seine Art, mit dem bitteren Bodensatz des Lebens umzugehen. Es war kein Hass, wohl aber ein tiefer Schmerz, der sich in seinen Worten bemerkbar machte. Der Augenblick währte kurz, dann erzählte er wieder über den Lunapark, die Zauberer, die er als Kind gesehen hatte. Der Schmerz wich mehr und mehr einem milden Lächeln, das sich in seinen Mundwinkeln wie zwei kleine Sonnen festsetzte. Nahezu drei Stunden lang sahen wir uns die Häuser um den Savignyplatz an, aßen im Gehen die guten Cremeschnitten aus dem KaDeWe , ließen uns durch die Straßen treiben. Es war, wenn ich jetzt zurückdenke, ein ruhiges und glückliches Gehen. Wir errichteten mit unseren Schritten einen Ort in der Zeit, der an jenem Tag nur uns gehörte. Wir schwiegen lange miteinander, so habe ich nie vorher und nie danach mit anderen Menschen und schon gar nicht in einer Gruppe geschwiegen. Mischa brachte uns schließlich in den Schlosspark zu einer großen alten Maulbeere. Wir saßen lange dort beieinander, bissen, verschmitzt lächelnd, noch einmal in die Cremeschnitten. Ezra wollte plötzlich eine Orange essen, eine große, große Orange, woraufhin ihm Mischa sagte, dass er sich die Orange gut angucken soll. Das Leben ist eine Orange, mein Kleiner, sagte Mischa, und Ezra lachte so laut, wie ich ihn noch nie hatte lachen hören. Wir fielen in dieses Lachen ein, wussten nicht warum, aber es war uns auch egal.
Mischa war mit einem Mal müde geworden und wollte sich im Hotel hinlegen. Die Müdigkeit, sagte er lächelnd, diese lebenslang erworbene Müdigkeit, an den Nachmittagen überkommt sie mich am schnellsten und jedes Mal ist sie etwas vollkommen Überraschendes. Mir fiel Ariks Onkel Clément ein. Was hatte Clément sein Leben lang außer den unzähligen Ausgaben von Paris Match angesammelt? Vielleicht sammelte ein jeder etwas und wusste es nur nicht, folgte sein Leben lang einer Spur, die ihn auf seinem Weg hielt und die er in der Stunde seines Todes erkennen würde. Aber müde werden wir alle. Am liebsten hätte ich wie früher mit Mischa über Clément gesprochen, aber es war nicht der rechte Moment, die Zeit des Fragens war irgendwie vorbei. Ich sah ihn an. Er lächelte. Es war ein fast jenseitiges Lächeln, es war da, vor meinen Augen, und doch kam es aus einem anderen Raum, einer weit entfernten Tiefe, die mich durch seine Augen betrachtete. Dora stützte ihn. Wie in Zeitlupe sah ich seine beiden Grübchen. Ich fragte ihn, ob er noch gehen konnte. Da er nichts antwortete, hielt ich ein Taxi an. Mischa sagte nichts, schweigend lächelte er. Wir fuhren in die Fasanenstraße zum Savoy. Bevor wir uns verabschiedeten, sagte Mischa, es sei das einzige Hotel, an das er sich noch erinnern könne. Sofort reichte er die Erklärung nach. Noch bevor ich fragen konnte, warum, sagte er es schon. Es ist 1929 erbaut worden, es war eine große Sache damals. Ich hielt seine rechte Hand. Fast wollte ich sie küssen, weil es mir wie ein Abschied für immer vorkam. Ich war urplötzlich von Trauer erfüllt, weil ich Angst hatte und zum ersten Mal verstand, dass Mischa ein alter Mensch war, dass unsere Stunden miteinander zählbare Stunden waren, dass dieser Augenblick wie jeder andere ein endgültiger Abschied sein konnte. Später holten wir die beiden zum Essen ab. Dora hatte im österreichischen Restaurant Ottenthal einen großen Tisch reserviert. Wir saßen da wie eine eigensinnige kleine Familie, auf unsere Weise, zusammengewürfelt und aus allen Himmelsrichtungen kommend, waren wir Menschen, die wussten, dass sie gerade deshalb zueinander gehörten. Mischa sprach es aus, als wir mit Wein anstießen, er sagte, das Schicksal hat ein bisschen Schach mit uns
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