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Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)

Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)

Titel: Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marica Bodrožić
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Belagerung und den ganzen Krieg in der Stadt überlebt. Ich wusste, dass das Erlebte ständig an ihr nagte. Aber wie verwundet sie innerlich nach all den Jahren immer noch war, hörte ich jetzt an der Art, wie sie über alles erzählte, wie sie sich jeden Satz von Mateos Verein gemerkt hatte und in seine Sprache wie in ein offenes Messer gerannt war. Sie war verwundet worden und eingezäunt von dieser Sprache, die keine Gnade kannte.
    Zornig versuchte sie, sich aller Details zu entsinnen und sie wortgetreu wiederzugeben. Sie sah von meinem Fenster zur alten Maulbeere im Hof und zündete sich nervös eine Zigarette nach der anderen an. Sie wusste alles über die Zerstörung der Denkmäler, den Monat, die Woche, den Tag, die Stunde als es begann. Aber Onkel Milan erzählte sie von alledem nichts. Wenn sie mit ihm in Paris telefonierte, erwähnte sie nur das gute Essen, das schöne Wetter, und sie schmiedeten ernsthaft Pläne für ein Wiedersehen im nächsten Sommer. Zusammen mit einer französischen Freundin aus Meudon Val-Fleury wollte er mit Tante Sof ij a auf einer der großen Sonneninseln ein paar Wochen verbringen. Onkel Milan wird sie spätestens dann die Zerstörung der Denkmäler nicht mehr verheimlichen können. Wenn es schon Zoki Zaritsch in Paris wusste und darüber bereits in den französischen Zeitungen geschrieben worden war, dann musste es auch mein Onkel Milan längst erfahren haben. Meine Mutter erzählte bei ihrem letzten Besuch in Berlin auch von anderen Orten, von Gedenkstätten, die von den Erneuerern nicht zerstört worden waren. Sie sagte, dass die Männer, meistens drogensüchtig gemachte Frontrückkehrer, schnell gelernt hatten und nicht alles anzündeten, sondern das Alte auch umfunktionierten. Einer dieser Rückkehrer kam auf eine neue Geschäftsidee, in einer Kleinstadt, in der unsere Verwandten väterlicherseits lebten. Dort machte ein Patriot aus einer Gedenkstätte, die im Zweiten Weltkrieg ein Kinder-Gefangenenlager gewesen war, über Nacht eine Diskothek. Zehntausende waren dort einst inhaftiert gewesen. Viertausend waren gestorben. Das Haus hatte vier Stockwerke. Sehr viel Platz ist das, sagte meine Mutter, Platz fürs pure Vergnügen. Dieses Geschenk an die Jugend, sagte sie, war unermesslich und schön für das kleinstädtische Leben. Aus der Vergangenheit musste unbedingt Gegenwart entstehen. Das Hier. Das Jetzt. Das richtige Leben. Einst bekamen in genau diesen Räumen die kleinen Gefangenen ihr Essen mit Natriumhydroxid vermischt. Hier, in den gleichen Räumen, sagte meine Mutter, in denen ihr Appetit tödlich war, tanzen heute satte, glückliche, schöne, moderne Jugendliche in bunten Converse Chucks zu betörend schnellen Beats. Wenn sie am frühen Morgen nach Hause wanken, lauschen sie dem Singen der vielen Nachtigallen, der Tau auf dem Gras grüßt ihre durchgetanzten Zehen. Es ist ein wohliges Leben, das sie haben – ein sattes Leben im Frieden, voller Möglichkeiten, offen für die Zukunft, für jedes Abenteuer.
    Das Unrecht war offensichtlich, ich verstand meine Mutter zutiefst. Und doch befremdete mich die Härte in ihrer Sprache. Die Art, wie sie sich auf die Einzelheiten stürzte, übertrug sich auf mich. Davor hatte ich mich immer gefürchtet, ich hatte Angst, dass die Gewalt sich meiner eigenen Sätze bemächtigte. Diese wütende, fremde Sprache war ein Teil meiner Mutter geworden und sie hatte es nicht einmal gemerkt, sie, deren Beruf und Berufung die Zwischentöne in der Sprache waren.
    Als meine Mutter einen Spaziergang machte, saß ich mit Nadeshda auf dem Balkon in der Sonne, und wir fragten uns, ob die Jugendlichen, die in diese Diskothek gingen, überhaupt wussten, was in den Räumen geschehen war, in denen sie tanzten. Sag ihr das bloß nicht, sagte Nadeshda, du siehst ja, dass sie ein Nervenbündel ist. Ich sagte nichts, wieder war ich gezwungen, still zu sein und meine Gedanken nicht mit meiner Mutter zu teilen. Aber ich fragte mich, wie ich ihr helfen könnte. Du willst sie retten, sagte Nadeshda, aber das kannst du nicht, sie muss das selbst überstehen. Ich dachte an Mateo, an das, worin alle damals seine Zukunft zu sehen glaubten, dachte an seine Augen, an die Tage unter den Bäumen, wenn die Hunde zu uns kamen und unsere nackten Füße mit ihren feuchten Schnauzen berührten. Und ich fragte mich, was aus Mateo geworden wäre, wenn es den Krieg nicht gegeben hätte oder wenn er wie Ilja und Silva nach Amerika ausgewandert wäre.
    Vielleicht, dachte ich,

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