Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)
und versuchen, ihre schöne, selbständige und in sich – von NATUR AUS ! – vollkommene Sprache anzutasten. Waffen hatten sie in ihren Kellern ja genug. Sie waren bereit, sie einzusetzen. Für ihr Vaterland. Für den Vaterländischen Krieg hatten sie schon alles gegeben, was sie hatten. Manche von ihnen hatten sogar auf eine Rente verzichtet. Helden nehmen doch kein Geld! Eine Kriegsrente! Nicht zu fassen, auf was für erbärmliche Ideen ihre Feinde kamen – mit Geld bestachen sie ihre Leute, das erklärte einiges. Sie hingegen mussten doch nicht für ihre vaterländische Liebe bezahlt werden. Was eigentlich in der Zwischenzeit all die Mütter taten, wusste niemand so richtig zu berichten. Nun, jeden fremden Spracheindringling würden sie schon in seine Schranken zu weisen wissen. Von nun an benutzten sie nicht mehr das Wort avion für Flugzeug – dass avion von avis, dem lateinischen Wort für Vogel abgeleitet wurde, wussten sie nicht, es störte sie nur, dass ihre Feinde das Wort benutzten und eine mehrköpfige Wortjury aus Dichtern und Denkern setzte sich zusammen, um einen Ersatz für das Fremdwort zu finden. Sie einigten sich einstimmig auf Luftdurchsegelungsgerät und waren glücklich. Niemand, aber auch wirklich niemand würde sie von nun an jemals mehr von irgendeiner weitentfernten Hauptstadt aus lenken können. Sie waren selbst in der Lage, ihre Sprache zu bereichern und einen eigenen kulturellen Raum für sich zu schaffen. Sie waren Opfer gewesen. Damit war jetzt Schluss. Der Verein war so in seinem Element, dass eines der Vereinsmitglieder irgendwann auf die Idee kam, die alten antifaschistischen Denkmäler und Gedenkstätten zu eliminieren. Die waren in ihren Augen der Materie gewordene Ausdruck der Vielvölkersprache. Das Alte. So unnötig wie ein vom Latein abgeleitetes Wort, avis , der alte Wort-Vogel, der ihnen etwas hätte beibringen können, musste getötet werden. Mit diesem Mischmasch wollten sie jedenfalls nichts mehr zu tun haben. Denkmäler! Wozu brauchten sie diese? Die Dinger mussten weg! Das wurde beschlossen. Von wegen antifaschistischer Kampf! Was für einen Unsinn man ihnen doch im alten Staat erzählt hatte. Schluss auch damit! Ohne eine Gegenstimme war die Sache abgemacht. Ein für alle Mal sollte es mit den Lügen vorbei sein. Redlichkeit ist etwas für richtige Männer. Mateo meldete sich wieder als erster. Seiner Nation zu dienen, das war noch immer allererste Bürgerpflicht für ihn. Er stahl meiner Großmutter vor lauter Zorn die alte Streichholzschachtel mit dem Logo der Olympischen Winterspiele. 1984! Das war doch Vergangenheit! Sentimentales altes Weib! So soll er sie genannt haben.
Davon war meine Mutter überzeugt. Und dann schaffte er in einer Nacht auf einem Karren die Holzvorräte aus dem Schuppen. Auf einem Lastwagen wurde das Holz in die nächstbeste Gedenkstätte gekarrt. Es sollte ein schönes, großes, wunderbares Feuer werden. Gott war an ihrer Seite. Seine Liebe war ihnen sicher. Gott, darin waren sie sich einig, liebte die Kraft des Feuers genauso wie sie. Und er mochte bestimmt ihre Luftdurchsegelungsgeräte lieber als die Flugzeuge der anderen. Das berühmte wellenartige Gebäude, das Tito (sie nahmen sich sein Bild mit, um es unterwegs abwechselnd zu bespucken und darauf zu onanieren) als antifaschistisches Denkmal erbauen ließ – war ihr erstes Ziel. Nieder mit den bescheuerten antifaschistischen Kämpfern! Was haben sie uns gebracht: Gefangenschaft! Und eine fünfzigjährige Abhängigkeit von den Orthodoxen! Das Gebäude, das als erstes brannte, hatte im Vielvölkerstaat an ein Feldlazarett erinnert, in dem Widerstandskämpfer um das Leben ihrer Kameraden rangen. Heute ist das Denkmal halb zerstört und fällt wie ein rostendes Schiff auseinander. Die Leute im Ort benutzen es als Sockel für eine Satellitenschüssel und eine riesengroße Antenne, um neueste amerikanische Serien empfangen zu können. Ebenso eifrige Vereinsmitglieder haben andere Denkmäler an anderen Orten wie das Wellengebäude von Mateo zerstört. Es war ganz leicht, alles kaputt zu machen, sagte meine Mutter, die kaum eine Pause beim Sprechen eingelegt hatte. Nichts ist leichter als das, wenn man einen nationalen Auftrag hat und damit die eigene Geschichte verteidigt, wer im Dienste einer reinen Sprache handelt, kann ganz schnell das Lebenswerk eines anderen zerstören und sich mit einem schönen schwarzen Kaffee belohnen. Was für ein Triumph! Wofür um Himmels willen brauchte man
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