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Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)

Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)

Titel: Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marica Bodrožić
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meinen Körper im Gehen ganz spüre. Niemand kennt hier meine ganze Geschichte. Aber wo kennt jemand die vollständige Geschichte eines anderen Menschen? Ich sehe mir die Gesichter der Passanten an und frage mich, wer von ihnen weiß, was sein echtes Gesicht ist und ob das, was sie im Vorbeigehen zeigen, etwas ist, das auch sie selbst sehen, oder nur das, was sie den anderen von sich zeigen wollen. Nichts kam mir früher natürlicher als das menschliche Gesicht vor, jetzt, da ich selbst in der Menge verschwinde und zu einem Gesicht und tausend Gesichtern werde, erscheint es mir sehr rätselhaft, abgründig, ein Geheimnis. Alle Körper beeilen sich. Die Gesichter gehorchen ihnen. Das Leben in der Stadt ist geizig. Wenn ich jemanden anlächle oder ihm in die Augen sehe, denkt er, dass ich verrückt bin oder etwas von ihm will. Das spüre ich, dabei habe ich überhaupt keinen Grund für mein Lächeln, es ist nicht zielgerichtet, ich habe keine Hintergedanken. Am Wittenbergplatz umgibt mich ein hektisches und lustvolles Hantieren mit Einkaufstüten. Junge Frauen in kurzen Blümchenkleidern telefonieren, eifrige Mütter schieben mit Blick auf die Uhr ihre Kleinen vor sich her, zwei, drei Raucher sind an der Bushaltestelle zu sehen, sie scheinen die Geduldigsten unter allen zu sein. Am Platz sind Tafeln aufgestellt, die an die Lager und die Zeit der Barbarei erinnern. Ich kenne dieser Lager nur aus Geschichtsbüchern. Die Gedenktafeln sind braun. Die Lagernamen sind gelb. Die Namen klingen fast alle harmlos, wie Ausflugsziele, schöne Orte im Grünen, oder wie etwas aus einer uralten Erzählung. Es sind polnische Namen, greifbare Wirklichkeit, keinem Märchen entsprungen, vor meinen Augen flimmern die Buchstaben auf, mahnen das Gedächtnis der Passanten an, die allesamt mit etwas anderem als der reinen Betrachtung beschäftigt sind. Auch der Name Maly Trostinez ist auf einer der Tafeln zu lesen. Vor meinen Augen zerbricht das Wort in Trost und Inez, einen Frauennamen, der mich an eine Nachbarin meiner Großmutter in Istrien denken lässt. Inez ist Mateos Mutter. Inez ist es überhaupt nicht recht, dass ihr Sohn diesem neuen Sprachverein beigetreten ist, dass er sich für so etwas hergibt. Aber sie kann ihn nicht daran hindern, etwas zu tun, wenn er es sich in den Kopf gesetzt hat. Ich denke bei dem Wort Trostinez aber vor allem an Mischa Weisband, daran, dass er dort war, in diesem weißrussischen Lager bei Minsk, und dass er vielleicht nie diesen Frauennamen, immer nur das verstörende Wort Trost gesehen hat, die Kälte, die von ihm ausging und alle Worte in seinem Kopf mit einem Zittern ansteckte, das er nie wieder vergaß. Mir fällt auch meine Großmutter Inge ein, die mit uns Kindern in den Sommern immer Deutsch sprach und uns Märchen vorlas, manchmal auch Redensarten aus dem Deutschen übersetzte, um uns zu zeigen, wie anders sie in ihrer zweiten Sprache klangen. In den deutschen Redensarten sind manchmal die Wörter so schön wie die Ortsnamen auf den braunen Tafeln. Sie tragen einen alten Boden in sich.
    Ich erinnere mich jetzt, dass mir die Redensarten schon bei Mischas und Doras Besuch in Berlin wie verschluckte Brotkrumen in der Lunge feststeckten. Mischa hat damals geschwiegen, ich spürte aber, dass er die deutschen Redensarten nicht mochte, dass sie ihn regelrecht störten. Wir gingen ins KaDeWe , im sechsten Stock tranken wir Champagner und kauften danach fast alle Cremeschnitten bei dem französischen Bäcker auf. Zusammen mit Nadeshda, Dora und Ezra schlenderten wir den Kurfürstendamm hinunter, langsam, als hätten wir Jahre, um diese Straße zu erkunden. Mischa kannte noch von früher kleine Schleichwege und Straßen, in denen ich nie gewesen war und die auch Nadeshda nicht kannte. So gelangten wir, die wir uns in Berlin zu Hause glaubten, unter der Anleitung eines Ortskundigen zum Savignyplatz. Kurz standen wir vor dem Haus, in dem Mischa als Kind gewohnt hat. Seine Familie, erzählte er uns zum ersten Mal, stammte aus Göttingen. Als kleines Kind war er noch mit seiner Mutter regelmäßig in den riesigen Lunapark gegangen. Er muss damals drei oder vier Jahre alt gewesen sein. Er liebte den Park und die Grenzenlosigkeit, die einem Stadtkind als die verlockende Weite der Natur vorkam. Besonders gerne mochte er die Terrassen im Lunapark, er erinnerte sich, wie sehr die Wasserrutschbahn und ein drehbares Haus ihn einst beeindruckt hatten, aber auch ein Rummel, auf dem ein Karussell stand, Schieß- und

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