Kirschroter Sommer (German Edition)
mal abgesehen, macht es keinen großen Unterschied, ob man sich an einem Baggersee oder der Adria befindet.
Früher war es genau das gewesen, was ich wollte … Doch bei meinen letzten zwei Reisen erschien mir das auf einmal nicht mehr genug. Ich habe mich danach gesehnt, einen Menschen an meiner Seite zu haben, den ich liebe. Jemanden, mit dem ich all diese neuen Eindrücke teilen könnte. Ich möchte die Welt nicht nur selbst sehen, ich würde sie gerne einer Frau zeigen, die mir viel bedeutet, und alles mit ihr gemeinsam erleben.
Das klang jetzt vermutlich total abgedroschen. Aber so ist es mir wirklich ergangen und eventuell, zumindest habe ich die Hoffnung, kannst du ungefähr verstehen, was ich damit meine? Vermutlich aber sind dir diese Gedanken total fremd …
Und sei ehrlich, hast du jetzt Mitleid oder habe ich dich abgeschreckt?
(Wieso vermute ich, dass Letzteres bei dir nahezu unmöglich ist?)
Ich hoffe, du wirst einen wunderschönen Tag haben.
Bis bald
Luca
Luca war wie Zucker. Nicht klebrig, sondern einfach nur süß.
Seine Befürchtung, ich könnte ihn vielleicht nicht verstehen, war vollkommen unbegründet. Ganz im Gegenteil.
Meine eigenen Urlaube waren an einer Hand abzuzählen, und dass ich die deutsche Grenze überschritten hatte, war nur einmal vorgekommen. Als richtiger Urlaub zählte dieser Aufenthalt in Holland allerdings auch nicht. Es war die Abschlussfahrt meiner Stufe gewesen und auch wenn ich durchaus lustige Momente damit in Verbindung brachte, so waren sie gleichzeitig seltsam verschwommen …
Aber wie es wohl tatsächlich wäre, mit einem Menschen, den man liebte, um die Welt zu reisen? Mit dem man, wenn man Glück hatte, vielleicht sogar dieselben Interessen teilte?
Ich seufzte und malte weitere Kringel auf den Rand des Notizblattes. Wie sollte ich von dieser Vorstellung abgeschreckt werden? Mich erschreckte allenfalls die Tatsache, dass mir diese Zeilen wahrhaftig ein Mann geschrieben hatte.
Vielleicht hatte Alex Recht und ich sollte mich wirklich mit einem möglichen Treffen auseinandersetzen. Immerhin schrieben Luca und ich uns schon seit über sechs Wochen. Und umso länger ich es hinauszögerte, desto größer könnte die denkbare Enttäuschung werden. Denn selbst wenn Luca kein Computerwurm mit fettigen Haaren sein sollte, wer sagte denn, dass wir uns immer noch genauso gut verstehen würden, wenn wir uns leibhaftig gegenübersäßen?
Dafür gab es keine Garantie.
So unreal eine Seifenblasenwelt auch war, schön konnte sie trotzdem sein. Ein Treffen würde alles verändern. Vorbei wäre die »rein theoretisch«-Zeit, und es gäbe nur noch Praxis. Das Luftschloss könnte platzen, oder aber die durchsichtigen Steine würden real werden und sich langsam aufeinander bauen.
Meine Schultern sackten nach unten und die Miene des Kugelschreibers glitt weiter über das Papier. Ob es Luca vielleicht ähnlich ging? Schließlich war auch von seiner Seite noch nie die Frage nach einem Treffen gekommen. Aber dafür konnte es tausend Gründe geben und selbstverständlich hatte ich mir bereits ein paar zurechtgesponnen. Luca hatte sich nicht getraut, mich anzusprechen und mir stattdessen eine E-Mail geschickt. Mit anderen Worten, Luca war schüchtern. Doch weswegen mangelte es ihm an Selbstbewusstsein? Er war eloquent, klug, humorvoll, charmant und hatte eine eigene Meinung, hinter der er auch stand. Was übrig blieb und was ich nicht beurteilen konnte, war sein Äußeres. Befürchtete er, dass er mir nicht gefiel?
Eine andere – und wie ich fand ernsthaft in Betracht zu ziehende – Theorie war, dass Luca verdammt noch mal schwul war! Denn mal ehrlich, so ziemlich alles, was er schrieb – wenn er denn tatsächlich meinte, was er sagte –, war absolut untypisch für einen heterosexuellen Mann. Davon abgesehen würde es bestens in die Reihe meiner erbärmlichen und vor allem gescheiterten Beziehungen passen. Einer, der durch mich feststellte, dass er Frauen eigentlich doch nicht so toll fand, fehlte noch auf meiner Liste.
Ich bekam im Hintergrund mit, wie sich die Tür zum Hörsaal öffnete und sich jemand den Mittelgang herunter bewegte. Ich reagierte als Einzige mit dem nötigen Feingefühl und drehte meinen Kopf nicht in diese Richtung. Schließlich gab es kaum etwas Unangenehmeres, als alle Blicke gleichzeitig auf sich zu spüren. Selbst als ich Getrampel in der Stuhlreihe hinter mir hörte, ließ ich mich nicht zu einem Schulterblick hinreißen und meine Gedanken
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