Kissed by an Angel
wusste er, dass die alte Frau nicht zurückkommen wollte.
Vielleicht hatte die alte Frau etwas über ihn gewusst.
Aber was?
Tristan spürte, wie ihn die Dunkelheit wieder umfing. Er kämpfte gegen sie an. Was, wenn er dieses Mal nicht zurückkam? Er musste zurückkommen, er musste Ivy ein letztes Mal sehen. Verzweifelt versuchte er, sich wach zu halten, und konzentrierte sich auf alles Mögliche im Krankenzimmer. Dann sah er sie, neben einem kleinen Buch auf dem Nachttisch der Frau: eine Figur mit ausgebreiteten Engelsflügeln, die eine Hand nach der Frau ausstreckte.
Noch Tage später erinnerte sich Ivy an den Wasserfall aus Glasscherben. Der Unfall war wie ein Traum, den sie immer wieder träumte, an den sie sich aber nicht erinnern konnte.
Er überkam sie plötzlich, ob sie schlief oder wach war. Ihr ganzer Körper verspannte sich, und ihre Gedanken wanderten in die Vergangenheit, doch alles, woran sie sich später erinnern konnte, war das Geräusch, wie die Windschutzscheibe zersprungen war, und dann in Zeitlupe an den Wasserfall aus Glas.
Jeden Tag kam Besuch, Suzanne und Beth und einige andere Freunde und Lehrer von der Schule. Einmal kam Gary - es war für sie beide furchtbar. An einem Tag schaute Will kurz vorbei und ging schnell wieder. Sie brachten ihr Blumen mit, Kekse und ihr Mitleid. Ivy konnte es nicht erwarten, dass sie wieder gingen, konnte es nicht erwarten, wieder zu schlafen. Doch wenn sie sich abends hinlegte, fand sie keinen Schlaf, und musste ewig warten, bis es wieder Tag wurde.
Bei der Beerdigung nahmen sie sie in die Mitte: ihre Mutter und Andrew standen auf der einen Seite, Philip auf der anderen.
Ivy überließ Philip das Schluchzen. Gregory stand hinter ihr und legte ihr von Zeit zu Zeit eine Hand auf den Rücken. Sie lehnte sich kurz an ihn. Er war der Einzige, der nicht ständig von ihr verlangte, über alles zu reden. Er war der Einzige, der ihren Schmerz zu verstehen schien und ihr nicht ständig einredete, es wäre gut für sie, sich zu erinnern.
Stück für Stück erinnerte sie sich - teilweise mithilfe der Erzählungen von anderen - an das, was passiert war. Die Ärzte und die Polizei halfen ihr dabei. Die Unterseiten ihrer Arme waren voller Schnitte. Sie hatte wahrscheinlich die Hände vors Gesicht gehalten, sagten sie, um sich vor den Glassplittern zu schützen. Wie durch ein Wunder hatte sie ansonsten nur Prellungen vom Aufprall und dem Ruck des Sicherheitsgurts davongetragen.
Tristan hatte vermutlich das Steuer herumgerissen, denn der Wagen hatte eine Rechtsdrehung gemacht und der Hirsch war gegen Tristans Seite geprallt. Um sie zu schützen, dachte sie, obwohl die Polizisten das nicht sagten.
Sie erzählte ihnen, dass Tristan vergeblich zu bremsen
versucht hatte. Es war in der Abenddämmerung passiert. Und der Hirsch war wie aus dem Nichts aufgetaucht.
An mehr konnte Ivy sich nicht erinnern. Jemand berichtete ihr, dass das Auto einen Totalschaden hatte, aber sie weigerte sich, das Bild in der Zeitung auch nur anzusehen.
Eine Woche nach der Beerdigung kam Tristans Mutter vorbei und brachte ihr ein Bild von ihm. Sie erklärte, dass es ihr Lieblingsbild war. Ivy hielt es fest. Tristan lächelte und trug seine alte Baseballmütze, natürlich verkehrt herum, und die abgewetzte Jacke der Schuluniform; so hatte ihn Ivy oft gesehen. Er sah aus, als wolle er sie fragen, ob sie sich nicht zu einer weiteren Schwimmstunde treffen sollten. Zum ersten Mal seit dem Unfall brach Ivy in Tränen aus.
Sie hörte nicht, wie Gregory in die Küche kam, wo sie mit Tristans Mutter saß. Als er Frau Dr. Carruthers sah, erkundigte er sich nach dem Anlass ihres Besuchs.
Ivy zeigte ihm Tristans Bild und er schaute die Frau verärgert an.
»Es ist vorbei«, erklärte er. »Ivy kommt schon noch darüber hinweg. Sie braucht nicht noch mehr, was sie daran erinnert.«
»Wenn man jemanden liebt, ist es nie vorbei«, erwiderte Dr. Carruthers sanft. »Man lebt weiter, weil man muss, aber man trägt ihn immer im Herzen.«
Sie drehte sich wieder zu Ivy. »Du musst darüber reden und dich erinnern, Ivy. Du musst weinen. Bitterlich weinen. Du musst auch wütend werden. Ich bin es jedenfalls!«
»Wissen Sie was«, mischte sich Gregory ein, »ich kann diesen ganzen Quatsch nicht mehr hören. Alle erzählen Ivy, sie soll sich erinnern und über das, was passiert ist, reden. Jeder hat seine Lieblingstheorie, wie man trauern muss, aber ich frage mich, ob Sie eine Sekunde darüber nachdenken, wie
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