KISSED
Scharfschützen vor, die am Strand lauern, und sehe vor meinem inneren Auge den Film, den Abraham Zapruder vom Kennedy-Attentat gemacht hat. Den habe ich mal im Geschichtsunterricht gesehen. »Könnte nicht jemand…?« Ich imitiere jemanden mit einem Gewehr.
Victoriana schüttelt den Kopf. »Non. Die Person, die die größte Gefahr für misch darstellt, will misch leider ganz und gar lebendig.«
Ich folge ihr nach draußen. Das Meer tost, und wir sind vom Geschrei der Möwen umgeben. Victoriana schließt die Balkontür. Als sie sich umdreht, stehen Tränen in ihren aquamarinblauen Augen.
»Bitte«, flüstert sie. »Du musst mir ’elfen.«
7
Da erzählte er ihr, er wäre von einer bösen Hexe verwünscht worden.
~~~ Der Froschkönig oder der eiserne Heinrich« ~~~
»Du willst, dass ich dir helfe?«
»Oui.«
»Ich?«
»Oui.«
»Ich?«
»Ja, du. ’ör schon auf, dauernd zu fragen.«
»Tut mir leid. Es ist nur … du bist eine Prinzessin, und ich bin … ein Niemand.«
Sie blickt auf den Schuh hinunter, den ich repariert habe, und dreht ihren Fuß hin und her, um ihn eingehend zu betrachten. Unten gehen nach und nach die Leute an den Strand. Ich habe sie noch nie von so weit oben gesehen. Mit all den Handtüchern sieht der Strand aus wie die Patchworkdecke auf Moms Bett. Als ich sie wieder ansehe, ist Victoriana noch immer mit ihrem Schuh beschäftigt.
»Ihre Majestät?« Als sie nicht aufblickt, sage ich: »Prinzessin?«
»Victoriana. Isch ’abe etwas Wischtiges zu sagen, des’alb musst du misch bei meinem Namen nennen. Und non. «
»Non?«
»Nein, du bist kein Niemand. Du arbeitest ’art und bist ein guter Junge. Isch sehe disch, du arbeitest immer. Des’alb beobachte isch disch. Isch möchte ’erausfinden, ob du der rischtige Junge bist, um mir zu ’elfen.« Sie schnieft.
»Natürlich helfe ich dir. Aber wie?« Wenn sie keine Prinzessin wäre, würde ich den Arm um sie legen, um sie zu trösten. Aber das lasse ich lieber. Ist man eigentlich einsam, wenn man so hochwohlgeboren ist, dass niemand einen anfassen will?
Sie beantwortet meine unausgesprochene Frage, indem sie mit beiden Händen meine Hand ergreift und drückt, als würde sie fallen und ich wäre ihre Rettungsleine. Dann schluchzt sie: »Es geht um meine Bruder, meine liebe, süße Bruder, er ’at verschwunden. Du musst ihn finden!«
»Wo ist er?«
»Wenn isch das wüsste, bräuchte isch deine ’ilfe nischt.«
Ich spüre, wie mein Gesicht heiß wird, so heiß, dass ich ein wenig an den Ohren schwitze.
Als sie mein Unbehagen bemerkt, sagt sie: »Pardonnez-moi. Isch wollte disch nischt beschämen, aber isch bin verzweifelt. Meine Bruder, der Erbe des alorischen Thrones, er ’at verschwunden.«
»Verschwunden?« Was soll ich da machen? Ich meine, nicht dass ich für ein Mädchen nicht über glühende Kohlen gehen würde, aber was kann ich, was ein ganzer Stab Bodyguards nicht kann?
»Oui. Er h’at verschwunden, nachdem eine ’exe ihn mit einem Fluch belegt hat.«
Na, klar. Die Heißen sind immer verrückt. Schön anzusehen, nur schade, dass ein paar Schrauben locker sind.
»Es gibt … Hexen in eurem Land?«
Sie verdreht auf wenig prinzessinnenhafte Art die Augen. »’exen gibt es überall. Viele Leute sehen sie nur nischt.«
Ich nicke, als würde das alles einen Sinn ergeben, aber ich bin wohl nicht überzeugend genug, denn sie sagt: »DieKellnerin da unten, die immer die Kunden, die die größten Trinkgelder geben, bedient, der Page, der immer die leischtesten Koffer zu bekommen scheint. Dafür sorgen die ’exen. Sie machen ihr Leben leischter. Bestimmt fallen dir noch andere Beispiele ein, vielleischt aus deinem näheren Umfeld.«
Ich überlege, wen sie wohl meinen könnte. Dann fällt mir wieder ein: Es gibt gar keine Hexen. Ich nicke trotzdem.
»Aber die ’exen in Zalkenbourg, sie sind nischt ’armlos. Und meine Bruder war töricht genug, nischt zu merken, dass das Dorfmädschen, das er mochte, in Wirklichkeit Sieglinde, die mächtige zalkenbourgische ’exe war, die sisch verkleidet ’atte. Er ging in ihr ’äuschen – und paff!«
»Paff?«
»Sie verwandelt ihn in einen Frosch.«
Ich kratze mich am Ohr. »Sagtest du, in einen Frosch?«
»Oui .«
Lange betrachte ich ihr falsches trauriges Gesicht und ihre falschen Tränen und finde, dass sie gar nicht so hübsch ist, wie ich gedacht hatte. Offensichtlich hält sie mich für einen Volltrottel. Ich verbeuge mich, damit es nachher nicht heißt, ich sei
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