KISSED
Richtung.
Ich ziehe Wendells Fernglas aus dem Rucksack heraus. Ein Riese. Zwei Riesen. Denn das, was Meg gerade beobachtet, ist der andere Riese. Durch die Gläser sehe ich, wie sie durch das Unterholz jagen.
»Ich werde auf keinen Fall die Nacht hier draußen verbringen«, sage ich.
»Huh, nein«, stimmt Meg zu.
Doch wir beschließen, dass wir so tun werden als ob, um Wendell zufriedenzustellen. Deshalb sage ich: »Besser, wir schlagen das Zelt auf, bevor sie näher kommen. Du bleibst hier auf dem Baum. Wenn du rufst, komme ich mit dem Umhang hoch.«
»Soll ich dir nicht helfen?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Ähmmm …« Ich schüttle den Kopf. Ich wollte eigentlich sagen, dass ich nicht möchte, dass sie in Gefahr gerät, aber das würde Meg nicht gefallen. Sie ist nicht so ein typisches Mädchen wie Victoriana, das einen Kerl braucht, der es beschützt. Deshalb sage ich: »Jemand muss Schmiere stehen.«
»Okay, aber mach schnell.«
Ich wünsche mich nach unten, um das Zelt aufzuschlagen. Schließlich bin ich so weit und pflocke es gerade an, als ich Megs Stimme höre. »Johnny!«
Ihre Stimme ist heiser, als würde sie schon eine Weile brüllen. Hektisch fuchtelt sie nach links. Der Riese ist so nah, dass ich die dunklen Haare sehen kann, die den größten Teil seines Körpers bedecken. Sein einziges Kleidungsstück besteht aus dem Fell eines riesigen Tieres, das er sich um die Hüfte gebunden hat. Sein Gesicht ist schmutzig und mit Hirschblut verschmiert. Ich denke an die Zeile aus Hans und die Bohnenranke : »Ich zermalm seine Knochen und mach daraus Brot.« Das würde er mühelos hinkriegen, obwohl er mir eher wie ein Fleischfresser vorkommt, nicht wie einer, der auf Kohlehydrate steht. Er kommt auf mich zu. Bleib ruhig. Wir hatten einen Plan. Nimm den Umhang. Aber als ich danach greifen will, ist er weg. Ich schaue mich um und sehe ihn schließlich ein Stückchen weiter weg. Jetzt stürmt auch noch der andere Riese auf mich zu. Ich weiß, dass er mich sieht, denn sein Auge funkelt. Ich glaube, er hat nur eins – das andere ist ausgestochen und mit Haut überwachsen.
Keine Zeit nachzudenken. Ich greife nach dem Umhang, aber er hat sich in einem Zweig verfangen. Der einäugige Riese läuft jetzt schneller. Ich rieche einen mächtigen, widerlichen Gestank nach verfaulten Eiern, Stinktiersekret und menschlichen Fäkalien. Allein dieser Gestank kann einen Hirsch wahrscheinlich umbringen. Die Erde bebt. Ich zerre am Umhang. Er hängt fest. Über mir schreit Meg: »Ich komme runter! Ich lenke ihn ab!«
»Nein!« Der Schrei bricht aus mir heraus, während ich ziehe. Schritte dröhnen. Ich ziehe stärker. Bitte, bitte, komm nicht herunter, Meg. Der Riese ist jetzt so nah, dass ich seine sehr spitzen Zähne und seine vollen Lippen sehen kann, die die Farbe und Beschaffenheit von Hundefußballen haben. Ich reiße am Umhang. Mit einem ratschenden Geräusch gibt er nach, gerade als der Riese, der am nächsten ist, nach mir fasst. Ich wickle mir den zerfledderten Stoff um die Schultern. »Ich wünschte, ich wäre im Baum bei Meg.«
Und dann bin ich neben ihr. Sie ist nicht nach unten gekommen.
»Du bist in Sicherheit!«, sagt sie, und ich sehe, dass sie geweint hat. Aber die Riesen haben uns entdeckt. Der einäugige Riese hat den Baum erreicht. Er schüttelt ihn, sodass er stärker schwankt als in jedem Wind. Der Gestank ist so überwältigend, dass ich ihn schmecke, selbst wenn ich durch den Mund atme. Ich lasse Meg los und klammere mich stattdessen an einem Ast fest. Der Riese schlägt seinen Kopf gegen den Baum.
Jetzt ist auch der andere Riese da. Wir sind verloren. Ich versuche, den Umhang über uns beide auszubreiten, aber ein Windstoß reißt ihn von Megs Schultern.
»Wünsch dich einfach woandershin«, sagt Meg. »Wenigstens einer von uns sollte weiterleben.«
»Kommt gar nicht in Frage.«
Der zweite Riese rammt den Baum. Ich weiß, dass sie jeden Augenblick damit anfangen werden, zusammenzuarbeiten und den Baum hin und her zu schütteln. Einer könnte sogar auf den Rücken des anderen steigen und zu uns heraufklettern.
Aber etwas anderes passiert. Der einäugige Riese erblickt den anderen Riesen. Er stößt ein Brüllen aus und rast auf ihn zu. Beide treffen den Baum, der hin und her schwankt. Dann liegen sie auf dem Boden und raufen wie zwei Kinder, die sich um den letzten Keks zanken. Sie rollen weg vom Baum, und in diesem Moment kann ich uns beiden einen winzigen Fetzen Umhang um die
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