KISSED
nicht warten. Der Frosch hüpft auf eine Gruppe Touristen zu. Ich greife nach Megs Hand. »Los, komm!«
38
In stiller Übereinkunft rennen wir nicht. Wir wollen ihm keine Angst einjagen. Als wir den Friedhof erreichen, sind die Touristen weitergezogen. Alles ist still. Ein Schauder läuft mir über den Rücken. Ich halte meinen Blick die ganze Zeit auf das graue Gras und die graue Erde gerichtet.
Was war das? Irgendetwas bewegt sich zwischen zwei zerbröselnden Baby-Grabsteinen. Ich lasse den Rucksack fallen und mache einen Schritt nach vorne. Noch einen. Nichts rührt sich. Ich bleibe stehen, horche. Nichts, nur Musik und ein stotternder Motor in der Ferne. Dann verstummt der Motor, und ich höre Megs Atem.
Ich halte die Luft an und höre, wonach ich gelauscht habe – das Rascheln eines kleinen Lebewesens, das sichbewegt. Ich kauere mich auf den Boden und halte weiter die Luft an, bis ich es wieder höre. Ich stehe auf und berühre Megs Hand. Sie hat es auch gehört. Durch Blicke kommen wir überein, dass ich vorgehen werde.
Ich bewege meinen Fuß über eine grasbewachsene Stelle. Ich bleibe stehen. Stille. Ich gleite zur Seite, meine Hand streift die kühle Glätte von Granit. Ich beuge mich vor und suche das Gras nach meiner Beute ab. Meg ist über einen Seitenpfad mitgekommen. Jetzt duckt sie sich. Im Schatten könnte sie auch als Panther durchgehen, der einen Hasen jagt. Unsere Blicke treffen sich kurz, und stillschweigend danke ich Gott für Meg. Dann raschelt es, und etwas bewegt sich in einem Strauß Grabblumen. Ich mache einen Satz und spüre den kühlen Frosch unter meinen Händen. Ich schließe meine Hände um ihn, erwische aber nur trockene Blütenblätter. Ich schaue zu Meg. Ich weiß, dass sie ihn kriegen wird. Aber dann schnappe ich nach Luft und erstarre. Die katzenartige Gestalt im Schatten ist nicht Meg. Die kauernde Gestalt erhebt sich, sie ist groß und breitschultrig. Siegfried!
Ich sehe eine Bewegung. Ich lasse die Blumen fallen. Der Frosch hüpft weiter weg.
»Fang ihn, du Trrottel!« Eine schrille Stimme hinter einer Gruft. Ich schaue hin und sehe Sieglinde. Sieglinde und Meg. Sie sind in eine Art Kampf verwickelt, Sieglinde hält Meg mit einer Art Bann in Schach.
»Fang ihn, Johnny!«, ruft Meg. »Du kannst es schaffen! Du musst derjenige sein, der ihn kriegt!«
Das ist alles, was ich brauche. Ich stürze mich auf den Frosch. Gleichzeitig hechtet auch Siegfried los. Der Frosch hüpft davon. Wir verfehlen ihn beide und stehen einen Augenblick lang Arm in Arm da. Ich blicke in sein Gesicht.
Er ist noch ein Kind. Ein großes Kind, aber jünger als ich. Vierzehn vielleicht. Definitiv nicht alt genug, um legal Auto zu fahren. Mit diesem Kind kann ich es aufnehmen.
Außer … ach so, ja. Er hat ja Zauberkräfte.
Vielleicht aber auch nicht. Als ich ihn am Hafen gesehen habe, hat er mit einem Gewehr auf mich geschossen.
Und ein Gewehr ist natürlich weit weniger Furcht einflößend als Zauberkräfte.
Wieder sehe ich den Frosch, er hopst an einem Grabstein vorbei, auf dem Geliebte Ehefrau steht. Einen Moment lang scheint Siegfried wie erstarrt. Ich renne dem Frosch nach. Mache einen Satz. Siegfried kommt wieder zu sich und fliegt durch die Luft. Der Frosch setzt zum nächsten Sprung an.
»Du musst mir vertrauen, Philippe!«, sage ich zu ihm. »Deine Familie schickt mich. Diese Typen da wollen dich umbringen! Einer von uns wird dich kriegen, und du solltest dir wünschen, dass ich das bin.«
Der Frosch hält mitten im Sprung inne, und ich packe ihn, während gleichzeitig Siegfried mich erwischt.
Ich sammle all meine Kräfte, mehr Kräfte, als ich geglaubt habe zu besitzen, und trete ihm in den Magen. Vor Schmerz schreit er auf. Ich wickle den Frosch in mein Hemd. In diesem Moment befreit sich Meg aus SieglindesZauberbann und hastet auf mich zu. »Den Umhang!«, ruft sie und zieht ihn aus meinem noch immer offenen Rucksack.
Sieglinde ist direkt hinter ihr und brüllt Siegfried »Du Narr! Idiot!« zu, aber der liegt geschlagen am Boden. Sie rennt und setzt zum Sprung auf den Umhang an, gerade als Meg es schafft, ihn um uns beide herumzuwickeln.
»Hast du den Frosch?«, fragt sie.
»Ja.« Ich fühle, wie sein kaltes Froschherz an meinem Bauch schlägt. Er wehrt sich nicht. »Ja!«
»Ich wünschte, ich wäre in meinem Schlafzimmer!«, flüstert Meg.
Ich spüre, wie der Umhang von mir weggerissen wird.
39
»Wo sind wir?«, fragt mich Meg.
Nicht bei ihr zu Hause, so viel ist sicher.
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