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Kite

Kite

Titel: Kite Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blake Crouch
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hatte er aus Lucys Mund noch nie gehört.
    Er drehte sich um und sah sie an. Der Schmerz stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben.
    In diesem Augenblick tat sie ihm leid.
    Donaldson konnte sich nicht daran erinnern, jemals für einen anderen Menschen Mitleid empfunden zu haben. Wennseine zahlreichen Opfer ihn um Gnade angefleht hatten, hatte ihn das nur noch mehr erregt.
    Aber als Lucy jetzt Bitte sagte, rührte sich ein anderes Gefühl in ihm – das Bedürfnis, ihr zu helfen und sie zu trösten.
    Wirklich seltsam.
    »Möchtest du eine kurze Pause einlegen?«, fragte er.
    Sie nickte.
    Die beiden setzten sich auf eine verfallene Bank an einer Bushaltestelle und gönnten ihren müden, geschundenen und verkrüppelten Gliedern ein wenig Ruhe.
    »Brauchst du noch ein paar Pillen?«, fragte Donaldson.
    »Wir brauchen sie viel zu schnell auf.«
    »Ich weiß. Aber darüber können wir uns morgen auch noch Gedanken machen.
Wenn
wir morgen überhaupt noch leben. Aber was im Augenblick zählt, ist heute.«
    Sie würgten je zwei Paracetamol ohne einen Schluck Wasser hinunter.
    Inzwischen hatte der Regen aufgehört und die Sonne ging gerade unter. Es war fast schon schön.
    »Was willst du machen, D, wenn das hier vorbei ist?«
    »Was meinst du damit?«
    »Ich meine, was kommt als Nächstes? Wir sind entflohene Straftäter und können uns nicht einfach frei in der Öffentlichkeit bewegen. Wir können nicht ewig davonlaufen und uns verstecken. Irgendwann finden sie uns.«
    »Dann gehen wir eben nach Kanada«, schlug Donaldson vor.
    »Und wovon sollen wir dort leben? Uns Jobs suchen?«
    »Wer sagt eigentlich, dass wir zusammenbleiben?«, fragte Donaldson. Es klang harscher, als er beabsichtigt hatte.
    »Willst du damit sagen, wir sollen uns trennen, wenn das hier vorbei ist?«
    »Wir mussten bisher zusammenarbeiten, Lucy. Wenn wir dashier erst einmal hinter uns haben, können wir unsere eigenen Wege gehen.«
    Donaldson wartete und hoffte, dass sie ihm widersprach. Er wunderte sich, dass sie ihm so viel bedeutete.
    »Wenn du das willst, D.«
    Er wollte es nicht. Es war sogar das Letzte, was er wollte. Wie konnte er nur so etwas Dummes sagen.
    »Darüber können wir, äh, später reden. Im Augenblick gibt es Wichtigeres. Bist du bereit?«
    Lucy nickte.
    »Schön, mal wieder jemanden umzubringen, meinst du nicht auch?«
    Sie rang sich ein schmerzverzerrtes Lächeln ab. »Und wie!«
    Die beiden gingen einen Block weiter. Ihre Schatten wurden länger und verschwanden schließlich ganz, nachdem die Sonne untergegangen war. Die einzige Lichtquelle, die sie bei sich hatten, war die kleine froschförmige Taschenlampe an ihrem Autoschlüsselanhänger.
    Donaldson befand sich in einem Gewissenskonflikt. Er wusste, dass er sich auf das konzentrieren musste, was vor ihnen lag. Gleichzeitig ließ ihm die Bemerkung, die er Lucy gegenüber gemacht hatte, keine Ruhe. Er musste die Sache wieder gutmachen. Allerdings machte er sich nicht unbeträchtliche Sorgen darüber, dass sie ihm eine Abfuhr erteilte. Warum er davor so viel Angst hatte, konnte er nicht mit Bestimmtheit sagen. Aber so war es jedenfalls.
    Donaldson räusperte sich, aber der Kloß in seiner Kehle ging davon nicht weg.
    »Hör zu, ich hab mir gedacht, dass es wohl am besten ist, wenn wir als Team arbeiten und zusammenbleiben.«
    »Ist das dein Ernst, D?«
    »Ja. Wir könnten nach Kanada trampen, unterwegs Autofahrer umbringen und ihnen Geld und Kreditkarten wegnehmen.Wenn wir dort sind, beschaffen wir uns falsche Papiere und geben uns als kanadische Staatsbürger aus. Dort oben gibt es eine staatliche Gesundheitsfürsorge. Schmerztabletten, so viel wir wollen, und das auf Staatskosten.«
    »Keine schlechte Idee«, sagte Lucy.
    Ihre Hand fand die seine in der Dunkelheit.
    Donaldson tat die Berührung höllisch weh.
    Aber in diesem Augenblick war ihm der Schmerz so egal wie schon lange nicht mehr.

    Sie gingen noch zehn Minuten und kamen nur sehr langsam voran, weil sie häufige Pausen einlegten.
    »D, schau mal.« Lucy deutete auf ein leeres Grundstück in der Ferne, auf dem nichts weiter stand als ein paar umgeknickte Laternenmasten – ein verlassener Parkplatz.
    »Was denn?«
    »Sag bloß, du siehst sie nicht.«
    Er blieb stehen und starrte ins Weite, und als er schließlich sah, was Lucy ihm hatte zeigen wollen, war er zunächst begeistert, dann jedoch erstaunt. Wie konnte seine Partnerin mit ihrem einen Auge in der Dämmerung etwas erkennen, das mehrere hundert Meter weit

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