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Kite

Kite

Titel: Kite Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blake Crouch
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Stück Haut ab.
    »Jack, unterstehen Sie sich …«
    Plötzlich riss der Hörer heraus. Ich spürte einen höllischen Schmerz im Ohr und warmes Blut lief mir den Hals hinunter. Ich warf das Ding ins Wasser, streckte der Kamera den erhobenen Mittelfinger entgegen und stand auf.
    Die Tür ging auf einen dunklen Betonkorridor hinaus, der sich weiter hinten gabelte. Ich stolperte müde, halb verdurstet und hungrig voran.
    Außerdem war ich wütend.
    Sehr wütend sogar.
    Zu viele Menschen hatten ihr Leben lassen müssen, nur damit dieser Irre …
    Nur damit dieser Irre was tun konnte? Mir zeigen, wie viel Macht er besaß?
    Mir Angst einjagen?
    Mich lehren, was ein Leben wert war?
    Ich wusste bereits, was ein Leben wert war. Dabei zusehen zu müssen, wie Luther Leben zerstörte, machte mein eigenes Leben in meinen Augen nicht wertvoller.
    Vielleicht hatte ich bisher wirklich nicht genug Muttergefühle für mein ungeborenes Kind empfunden, aber das konnte ja noch werden.
    Vielleicht hatte ich manchmal meine Mitmenschen schlecht behandelt, aber dazu hatte ich verdammt noch mal allen Grund.
    Vielleicht war ich egoistisch, aber das stand mir zu. Ich hatte auf dieser Welt viel Gutes getan, hatte viele Schurken hinter Schloss und Riegel gebracht. Zum Dank dafür hatte ich nichts weiter erhalten als schlaflose Nächte und Schuldgefühle. Und ich hatte viele meiner Freunde und Verwandte vor den Kopf gestoßen.
    Wenn ich ehrlich war, mochte ich mich nicht besonders.
    Aber das machte mich noch lange nicht zu einem hoffnungslosen Fall.
    Oder?
    Meine Füße waren kalt, nass und schlecht durchblutet, also stampfte ich auf und ab. Ein Teil von mir bereute, den Ohrhörer weggeworfen zu haben. Auch wenn Luthers Sprüche mich nervten, so hätte er mir jetzt immerhin gesagt, wohin ich gehen musste.
    Plötzlich hörte ich etwas.
    Stimmen.
    Stimmen, die sangen.
    Eine davon kannte ich.
    Ich ging in die Richtung, aus der sie kamen, was in der Dunkelheit und mit all diesen Echos nicht leicht war. Die Gänge bildeten ein Labyrinth mit Abbiegungen, Weggabelungen und Sackgassen. Ich kam nur langsam voran, aber dann wurden die Stimmen lauter, und ich gelangte in einen Gang, an dessen Ende sich eine Tür befand.
    Als ich sie öffnete, hallte mir die dritte Strophe des Gospel-Songs »Michael Row Your Boat Ashore« entgegen. Ich trat in kalten Schlamm und sah …
    »Herb!«
    »Jack!«
    Er war an die Wand gekettet und hatte einen von diesen schrecklichen Sprengsätzen um den Hals.
    Ich eilte zu ihm und umarmte ihn hastig. Er fühlte sich noch kälter an als ich, und seine Hände waren auf den Rücken gefesselt. Trotzdem war es die wärmste und herzlichste Umarmung, die ich je erlebt hatte.
    »Alles okay mit dir?«, fragten wir beide gleichzeitig. Dann mussten wir lachen. Angesichts der schlimmen Situation fühlte es sich gut an.
    »Wo sind Phin und Harry?«, fragte ich.
    Mein Freund ließ die Schultern sinken. »Keine Ahnung. Ich hab sie nicht gesehen. Ich hab überhaupt nichts gesehen.«
    Ich trat eine Armlänge zurück. »Was meinst … oh, um Himmels willen. Herb …«
    Jetzt erst sah ich seine Augen. Sie waren rot, geschwollen und zugenäht.
    »Hast du vielleicht Augentropfen dabei?«, fragte er.
    Ich umarmte ihn noch einmal, dieses Mal fester. Ich musste ihn – beziehungsweise uns beide – hier rausholen. Ein Blick auf seinen Rücken zeigte mir, dass seine Hände mit Kabelbindern gefesselt waren.
    »Nimm meine Schnürsenkel«, sagte Herb. »Die sind extrem reißfest.«
    Ich nickte und kniete mich in den kalten Schlamm. Es dauerte etwa eine Minute, bis ich den Schnürsenkel von einem seiner Schuhe entfernt hatte. Er war aus demselben Material wie Fallschirmschnüre, mit einer Mindestbelastbarkeit von zweihundertfünfzig Kilo. Ich schob die Schnur zwischen seinen Handgelenken hindurch und zog die Enden in schnellem Rhythmus hin und her, wie eine Säge.
    Der Kabelbinder zerriss in wenigen Sekunden.
    Jetzt konnten wir uns richtig umarmen.
    »Sind Sie hier, um uns zu retten?«
    Ich zuckte zusammen. Ich hatte vollkommen vergessen, dass noch jemand im Raum war.
    Ich drehte mich um und sah eine stämmige Frau, die ebenfalls ein Halsband trug. Ein schwaches, fast schon glückliches Lächeln huschte über ihr rundes Gesicht. Aber ihre Augen …
    Im Gegensatz zu Herb hatte Luther sie für immer geblendet.
    Ich überwand meine Abscheu und versuchte, positiv zu klingen. »Ich heiße Jack Daniels und bin hier gefangen, genau wie Sie. Aber ich werde

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