Klack: Roman (German Edition)
Abtanzball im Ballsaal der Stadthalle absolvierte ich mit Isabelle. Schöner, irgendwie exotischer Name. Sie war auch sehr hübsch, aber hölzern und so unterkühlt, dass sie mir sogar den trockenen Wangenkuss verweigerte, den ich ihr aufhauchen wollte, als wir in der Walzerwertung den dritten Platz belegten.
Die Tanzstunde war, kein Zweifel, wie Krawatten, schlecht sitzende Anzüge und trockene Wangenküsse, eine saftlos unsinnliche und antiquierte Sache. Die Sache, das eine, musste etwas ganz anderes sein. Aber das ganz andere war nur ein heißer Wunsch, dessen Erfüllung trotz lebhafter Phantasie- und Lendenleistung ein Ding der Unmöglichkeit blieb.
Am Abtanzball nahmen auch die Eltern teil. Meine Mutter fand Isabelle »ganz entzückend«, und mein Vater tanzte einen Foxtrott mit ihr. Mit Isabelles Mutter tanzte ich einen langsamen Walzer; ich glaube, sie fand mich nicht so entzückend, weil ich ihr dauernd auf die Füße trat. Mein Vater und Isabelles Vater verstanden sich bestens. Isabelles Vater war Offizier bei der Bundeswehr und Kriegsveteran wie mein Vater. Sie standen lange an der Bar, tranken abwechselnd Bier und Underberg, ein als gesundes Elixier geltender Schnaps in Fläschchen, die mit braunem Packpapier getarnt waren. Als ich einmal bei ihnen vorbeischaute, redeten sie über einen gewissen General Paulus, den Isabelles Vater als Schweinehund und Verräter bezeichnete. Mein Vater nickte heftig und sagte, dass er den Kommunismus hasse, allerdings den Russen als solchen durchaus – das kannte ich schon.
Als ich an einem der Tanzstundenabende spät nach Haus gekommen war, später als erlaubt, saßen meine Eltern und Hanna noch bei Oma. Das war ungewöhnlich, weil sie immer früh schlafen ging. Sie hatte den geblümten und gesteppten Morgenrock an und rosa Lockenwickler im grauen Haar. Ich rechnete mit einer Standpauke à la »wo hast du dich denn wieder rumgetrieben?«, aber der Familienrat tagte nicht wegen mir.
»Man fasst es nicht«, sagte meine Mutter, »so ein netter Mann.«
»Wer?«, fragte ich. »Herr Gellermann?«
»Unsinn, Herr Tabbert«, sagte Oma streng. »Aus dem Juchhe.«
»Was ist denn mit ihm?«
»Verhaftet. Die Gesta–, die Polizei hat ihn abgeholt. Man glaubt es einfach nicht.«
5
Tinottis Wagen
Das Foto ist keine Kopie der vergangenen Wirklichkeit, sondern eine Hervorbringung dessen, was wirklich passiert ist, eine Erinnerungsquelle, die, lange vergessen, beim Anblick des Fotos zu sprudeln beginnt. Deshalb, sagt Roland Barthes, sei die Fotografie weniger als Kunst zu verstehen als vielmehr als Magie.
Als du vor Jahren Barthes’ Die helle Kammer gelesen hast, blieb dieser Gedanke einigermaßen dunkel, doch erhellt er sich immer mehr, je länger du das Bild von Tinottis Eiswagen betrachtest. Wie hingezaubert stand er plötzlich vor dem Schandfleck. Wie etwas Märchenhaftes, Erträumtes, vage Ersehntes, von dem man nicht weiß, was und wie es ist, bis man es vor sich sieht. Also auch wie die Liebe.
Klack.
Der Wagen schien aus einer anderen Zeit gekommen zu sein und trotz des Nummernschilds BO auch aus einem ganz anderen Land. Die senkrechten, grün, weiß, rot angepinselten Bretter. Unter deinem Blick nehmen die verblichenen Grautöne des Schwarz-Weiß-Fotos Farbe an. Es sind aber keine Retouchierungen, sondern die Farben der Erinnerung, die nie verblassen, sondern ins Bild sinken und Tinottis Wagen zum Strahlen bringen.
Sonntag wurde wie an jedem Sonntag die Wachstuchschondecke vom Tisch genommen und durch weißes Leinen mit Monogramm aus Mutters Aussteuer ersetzt. Das gute Geschirr, das Silberbesteck und Papierservietten mit buntem Blumenmuster wurden andächtig aufgelegt. Aus dem Radio auf dem Schleiflackbüfett rieselte leise Das Sonntags-Potpourri unvergänglicher Klassik, und meine Mutter servierte Rindsrouladen mit Soße, Salzkartoffeln und Rosenkohl. Zum Nachtisch gab es eingewecktes Stachelbeerkompott mit Schlagsahne. Das Glas mit den Stachelbeeren hatte ich aus dem Eichhörnchenvorrat im Keller geholt.
»Erinnere mich daran, dass wir bald wieder auffüllen müssen«, sagte meine Mutter, aber ich nahm mir vor, sie nicht zu erinnern, weil ich Stachelbeeren nicht mochte. Zu sauer. Vielleicht würden wir den Atomkrieg ja auch ohne Stachelbeerkompott überleben.
Oma erzählte zum x-ten Mal von Herrn Tabberts Verhaftung. Die Polizei sei kurz nach acht Uhr erschienen, das wisse sie auf die Sekunde genau, weil in der Tagesschau gerade berichtet worden sei, dass an
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