Klack: Roman (German Edition)
sein, dass er verschwand.
Umso betrübter waren Hanna und ich. Mit Onkel Fritz verließ uns einer, der uns wie der Botschafter eines weiteren, freieren, besser ausgelüfteten Lebens erschien, ein Mann von jener Welt, die für uns so unerreichbar war wie eine ferne Galaxie.
Ich brachte ihn zum Bahnhof. Weil bis zur Abfahrt des Zugs noch genügend Zeit blieb, lud er mich zu einer Bluna und sich selbst zu einem Kaffee mit Weinbrand im Bahnhofsrestaurant ein.
»Als ich angekommen bin, hast du zu mir gesagt, der neue Gartenzaun habe etwas mit Italien zu tun«, sagte er. Dass er das nicht vergessen hatte! »Wie hast du das gemeint?«
Und dann erzählte ich ihm alles, was ich über die Familie Tinotti wusste, die Ablehnung dieser Leute durch Oma und meine Eltern, die Aussicht, Gitarrenunterricht zu bekommen, und als ich von Clarissa stotterte und mir alle Mühe gab, möglichst gleichgültig zu klingen, musste er wohl meine Verliebtheit gewittert haben.
»Sieh an«, sagte er nämlich, »eine kleine Mignon.«
Mien Jong? War das einer von Onkel Fritz’ hintersinnigen Witzen? »Nein, sie heißt Clarissa.«
»Auch ein schöner Name«, schmunzelte er.
Auf dem Bahnsteig wartete ich, bis der Zug abfuhr, während er sich aus dem geöffneten Abteilfenster lehnte. Als der Pfiff ertönte und die Dampfschwaden der Lok den Bahnsteig einnebelten, fiel mir noch etwas ein.
»Was heißt eigentlich PCI? Und Lotta Continua?«
»Großes Geheimnis«, lachte er, während der Zug anfuhr. »Das darf Oma nie erfahren. Sonst baut sie im Garten noch eine –« Seine letzten Worte verschluckte das Fauchen der Lokomotive.
9
B-Jugend Vizemeister Saison 61/62
An diesem Sommertag ist die Mannschaft Vizemeister der B-Jugendliga geworden. Im Vereinsheim gab es Zitronensprudel statt Sekt. Er würde, hat der Trainer gesagt, auch gern eine Kiste Bier springen lassen, aber dann käme er in Teufels Küche, von wegen Alkohol an Jugendliche ausschenken und so weiter. Also wurde brav der Sprudel getrunken, und dann bist du mit deinen Freunden, aber ohne Trainer, in eine Eckkneipe gezogen, in der man es mit dem Alter nicht so genau nahm. Die Mannschaft hat sich vor dem Eingang aufgebaut. Die hintere Reihe steht, die vordere Reihe kniet, alle haben eine Flasche Bier in der Hand, und Mannschaftsführer Willi Meisner hält den Pokal im Arm.
Klack!
Überm Eingang erkennt man deutlich das Schild Sportklause , aber deine Erinnerungen an diese Kneipe entzünden sich nicht an dem sonnigen Augenblick, den das Foto festhält, sondern tasten sich zurück durch die Nebel eines frostigen Wintertags. Manchmal gleichen Erinnerungen einem schadhaften Dach, aus dem der Sturm der Jahre Ziegel gerissen hat. Man dichtet die Lücken mit Steinen, deren Tönung sich dem Material um die leeren Stellen anpasst. So sind dann Erinnerungen nie mit dem identisch, was wirklich geschehen ist, sondern Erzählungen, die aus isolierten Momenten Zusammenhänge bilden.
Zu glauben, man könne Erinnerungen fotografieren, ist genauso dumm wie die Vorstellung, man könne Orte fotografieren, die in Romanen beschrieben werden.
Am ersten Schultag im neuen Jahr brachten Hanna und ich gleichlautende, hektographierte, nach Spiritus müffelnde Briefe nach Hause, die an unseren Schulen verteilt worden waren.
An die Eltern der Schülerinnen und Schüler der städtischen Gymnasien
Sehr geehrte Damen und Herren!
Wie Ihnen aus Presse, Funk und Fernsehen bekannt sein dürfte, gibt es seit geraumer Zeit auf politischer Ebene intensive Bemühungen um eine deutsch-französische Annäherung. Um die angestrebte Verständigung zwischen Deutschland und Frankreich im Geiste der Völkerfreundschaft auch auf kulturellem Gebiet zu fördern und zu vertiefen und Bande zwischen der Jugend beider Länder zu knüpfen und zu verstärken, plant die Schulbehörde an unseren Gymnasien die Einführung von Französischunterricht als Pflicht- bzw. Wahlpflichtfach. Zu diesem Zweck entsendet das französische Ministerium für Erziehung einen Emissär, der in Zusammenarbeit mit den hiesigen Behörden und qualifizierten Lehrkräften entsprechende Lehrpläne entwerfen wird. In einer Erprobungsphase soll dann an ausgewählten Gymnasien bereits im kommenden Schuljahr 1962/63 Französischunterricht erteilt werden.
Zur Unterbringung des Emissärs des französischen Ministeriums, Herrn Jean-Pierre Lemartin aus Straßburg, wird eine kleine Wohnung oder ein möbliertes Zimmer in einem gepflegten Haushalt gesucht. Da sich die Suche
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