Klack: Roman (German Edition)
meinen Vater und Onkel Fritz begleiten zu dürfen. Mein Vater wollte wie jedes Jahr eine stinknormale Fichte für 10 Mark kaufen, aber Onkel Fritz bestand auf einer Blautanne. »Wenn schon heimatliches Brauchtum, dann bitte mit Stil«, sagte er und bezahlte die Differenz aus eigener Tasche.
Aufgestellt wurde das kostbare Stück bei uns im Wohnzimmer; Oma hatte als Weihnachtsdekoration schon seit Jahren nur noch eine große Blumenvase mit einem Tannenzweig, zwei Strohsternen und etwas Lametta auf dem Klavier stehen, neben dem Foto von Onkel Eugen.
Meine Mutter beobachtete amüsiert unsere mehr oder minder fachmännischen Bemühungen, den Baum einzustielen und halbwegs ins Lot zu bringen. »Wie drollig«, kicherte sie, »drei Männer kämpfen mit einem Baum. Markus, mach doch mal ein Foto. Ist doch einfach zu schön.«
Ich holte die Agfa Clack, und als ich wieder ins Wohnzimmer kam, stand der Baum kerzengerade. Onkel Fritz und mein Vater stellten sich in Positur, lächelten in die Kamera und reichten sich wie zwei Staatsmänner, die nach langer Feindschaft soeben einen Friedensvertrag unter Dach und Fach gebracht haben, die Hände.
Klack!
Das Schmücken des Baums war Frauensache und wurde von Hanna und meiner Mutter erledigt. Hanna wollte dieses Jahr nur weiße Kerzen und Lametta anbringen. Das gelte heutzutage als dezent und schick, aber meine Mutter bestand auch auf den bunten Kugeln. »Weihnachten muss nicht schick sein, sondern besinnlich.« Was an den bunten Kugeln besinnlich sein sollte, blieb mir rätselhaft, aber sie setzte sich durch. »Wenn du deinen eigenen Haushalt führst«, sagte sie zu Hanna, »kannst du deinen Tannenbaum so schick machen, wie du willst. Bei uns bleibt alles so, wie es immer war. Gemütlich, friedlich und besinnlich.«
Hanna zog einen Schmollmund und verdrehte die Augen.
Mein Vater hatte in der Zeitung einen Aufruf des Kuratoriums Unteilbares Deutschland gelesen, an den zur Sicherheit auch noch einmal Das Echo des Tages sowie Karl-Heinz Köpcke in der Tagesschau erinnerten. Unter dem Motto »Denk an drüben« wurde die westdeutsche Bevölkerung dazu aufgefordert, an Heiligabend und Silvester Kerzen in die Fenster zu stellen. Die Kerzen seien ein Symbol unserer tiefen Verbundenheit mit unseren Brüdern und Schwestern in der Ostzone.
»Da werden sich Grete und Ernst in Rostock aber freuen«, meinte Onkel Fritz, als meine Mutter Stearin-Haushaltskerzen auf leere Germania-Bierflaschen pfropfte und auf den Fensterbänken verteilte. »Ob sie die Kerzen wohl sehen können?«
»Ach, Fritz«, seufzte meine Mutter, »sei doch nicht immer so zynisch.«
Im Schandfleck blieben die Fenster natürlich dunkel, was Oma unerhört fand. »Na ja«, sagte sie, »Brüder und Schwestern in der Zone werden die ja gewiss nicht haben.«
Ich verriet aber nicht, dass Familie Tinotti auf Heimaturlaub in Apulien war, und auch nicht die rote Fahne an der Wand. Ich konnte Geheimnisse für mich behalten. Oh ja –
Neben den symbolischen Kerzen hatten wir wie in jedem Jahr auch diesmal ein handfestes Weihnachtspaket nach Rostock geschickt: Jacobs Bohnenkaffee, Onno Behrens Ostfriesentee, Nylonstrümpfe, Sprengel Schokolade, Erfrischungsstäbchen, Gummibärchen, Nürnberger Printen, eine Flasche Asbach Uralt, zwei bügelfreie Dralonhemden und eine Perlonbluse.
»Mangelernährung gibt es da drüben wohl nicht mehr«, meinte mein Vater, »dafür hat der Russe gesorgt. Aber nach solchen Luxusartikeln lecken sie sich die Finger.«
»Im Grunde ist das perfide Westpropaganda«, sagte Onkel Fritz. »Wir zeigen denen, was wir alles für tolle Sachen haben, die sie auch haben könnten, wenn sie zu uns kämen. Anstiftung zur Republikflucht.« Onkel Fritz lachte. »Aber einer wie Ernst ist damit natürlich nicht zu ködern. Der lässt sich nicht anstiften, sondern stiftet den Asbach Uralt seinen SED-Kadern.«
»Ach, Fritz«, sagte meine Mutter, »jetzt lass zumindest an Heiligabend die Politik beiseite.«
Zum Abendessen gab es wie in jedem Jahr roten Heringssalat nach einem Rezept, das angeblich noch von Omas Großmutter stammte, dazu Pellkartoffeln. »Das Schlichte«, befand Oma, »ist der wahre Luxus.« Gänsebraten würde es erst morgen geben.
Zum Heringssalat hatte mein Vater eine Flasche lieblichen Moselwein aus dem Keller geholt. Hanna bekam ein ganzes, ich ein halbes Glas vorgesetzt. Onkel Fritz lehnte dankend ab und hielt sich zum Hering an Bier. »Was das Schlichte betrifft, hat Mama ausnahmsweise recht«,
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