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Klagelied auf einen Dichter

Klagelied auf einen Dichter

Titel: Klagelied auf einen Dichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Innes
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keinen wirklich geraden Kurs nach Süden halten konnte, wollte ich eingehen.
Nachdem das beschlossen war, legte ich mich noch einmal schlafen, oder doch zur
Ruhe. Die Nacht war kühl, aber nicht unerträglich kalt, und Frost gab es
keinen. Das gab meiner Hoffnung, daß ich am Horizont das Meer gesehen hatte,
noch Nahrung: mein Standpunkt konnte weder allzu hoch gelegen noch allzu tief
im Landesinneren sein.
    Bei Sonnenaufgang war ich wieder auf den Beinen, und auch wenn das
Vorbild des Kamels wohl nur bedingt für mich taugte, trank ich ein Gutteil mehr
Wasser, als angenehm für mich war. Der Weg von der Quelle, neben die ich
gestürzt war, zum offenen Gelände war beschwerlich, und ich stellte fest, daß
mein Verstand, obwohl einigermaßen klar, neben den Gedächtnislücken noch andere
besorgniserregende Schwächen hatte. Ich mühte mich entsetzlich, mit dem
randvollen Kochtopf durch den Kamin zu klettern, bis mir aufging, daß ich das
Wasser unten aus der Flasche eingießen und dann noch einmal zurückkehren
konnte, um die Flasche neu zu füllen. Als ich sah, wie unzuverlässig mein
Verstand reagiert hatte, packte mich eine Zeitlang die schiere Furcht – Furcht,
daß ich in mir die ersten Anzeichen jener lähmenden Panik entdeckt hatte, die
Menschen befallen kann, wenn sie keine Hoffnung mehr sehen. Doch ich überwand
dieses Gefühl, indem ich mich bei den ersten Meilen meines Marsches ganz auf
das Eierlaufen konzentrierte. Die Büsche standen weit genug auseinander, und
das Unterholz war so spärlich, daß es keine Gefahr bedeutete. Ich gestattete
mir einen halben Liter Wasser für den Tag, und den Rest brachte ich sicher bis
zum Nachtquartier. Auf dem Weg hatte ich ein paar von meinen Zwiebäcken
gegessen; nun machte ich ein Feuer und buk mir auf einem heißen Stein eine Art
Haferkuchen. Mir war ganz und gar nicht hoffnungslos zumute. Den Tag über hatte
mich immer wieder einmal ein stechender Kopfschmerz gequält; ansonsten war
meine körperliche Verfassung gut. Und in der Nacht schlief ich traumlos. Doch
am Morgen erwachte ich mit steifen Gliedern und schloß daraus, daß ich in
meinem früheren Leben wohl eher zu Pferde unterwegs gewesen war als auf langen
Fußmärschen.
    Am zweiten und dritten Tag muß ich jeweils etwa zwanzig Meilen
vorangekommen sein. Danach war der Kochtopf leer, und von da an marschierte ich
nachts. Daß ich einen guten Kurs Richtung Süden hielt, daran zweifelte ich
nicht, und am Ende meines dritten Nachtmarsches mußte ich einsehen, daß es
nicht das Meer sein konnte, was ich gesehen hatte. Mein Ziel war eine
Luftspiegelung gewesen, oder ein See, an dem ich längst vorüber sein mußte.
Ringsum war ich nach wie vor umgeben von derselben immergleichen Einöde, nie
etwas anderes als Buschwerk und Sand. Bisweilen sah ich in der Abenddämmerung
Känguruhs; einmal glaubte ich am hellichten Tage, ich sähe zwei Einheimische,
doch als ich zu ihnen hinlief, erkannte ich – so trügerisch war das Licht –,
daß es nur zwei einsame Elstern waren, die auf Baumstümpfen saßen. Und dann, im
Morgengrauen des siebten Tages, als meine Wasser- wie meine Nahrungsvorräte
erschöpft waren, stieß ich auf die eindeutigen Spuren eines Weißen – die
Abdrücke von Stiefeln, in zu langer Reihe, als daß es nur eine Laune der Natur
sein konnte, und gerade noch zu erkennen in dem lockeren, sandigen Boden. Ich
begriff, daß sie frisch sein mußten – schon ein Windhauch hätte sie
fortgeblasen –, und ich eilte voran mit der entsetzlichen Angst, daß ich in
meiner Schwäche den weniger Erschöpften niemals würde einholen können. Mir
schlug das Herz bis zum Halse, als ich, keine Viertelmeile vor mir, die kleine
Rauchfahne eines Lagerfeuers aufsteigen sah. Ich lief voran, schluchzend,
versuchte, aus der trockenen Kehle einen Ruf hervorzuwürgen.
    Der Mann war tot. Er lag da mit einer leeren Wasserflasche – das
einzige, was er an Besitz noch nicht hergegeben hatte. Sein noch warmer
Leichnam lag auf dem Gesicht, eine Hand war ausgestreckt zum schwelenden Feuer
und hielt noch ein paar trokkene Blätter umklammert. Der Tod war gekommen, als
er seinen letzten, verzweifelten Hilferuf senden wollte.
    Etwas in mir zerbrach – eine Schranke, die ich errichtet hatte,
nicht um mich vor den Gedanken an meinen eigenen bevorstehenden Tod, meine
Schwäche, meinen Durst zu schützen, sondern vor der Stille der Einöde. Die
Schranke zerbrach, und ich hörte diese Stille, die heiße, drückende Stille, die
stundenlang

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