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Klagelied auf einen Dichter

Klagelied auf einen Dichter

Titel: Klagelied auf einen Dichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Innes
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abschätzen, wie groß
er war, noch sagen, ob es wirklich möglich sein würde, ihn zu erklimmen. Die
Flanken waren schiere Wände, nur von wenigen senkrechten Kluften oder Kaminen
durchbrochen. Eine solche Felsspalte hinauf konnte ich vielleicht in Sicherheit
klettern.
    Ich raffte mich auf und fand mich – mit einer Art Überraschung, die
ich wie aus der Ferne betrachtete – bemerkenswert kräftig. Der immer wieder
umspringende Wind dämmte das Feuer ein wenig; hätte es den Wind im Rücken
gehabt, so wäre mir keine Chance geblieben. Auch so stand mir ein grimmiger
Wettlauf bevor, und ich verlor keine weitere Zeit. Doch bevor ich die Rinne
hinunterkletterte, sah ich mich noch um, ob ich etwas bei mir gehabt hatte. Es
gab Spuren eines Lagers: ein erstorbenes Feuer, ein umgestürzter Kochtopf,
Pferdeäpfel. Davon wußte ich nichts. Doch ich fand einen Knappsack, den ich als
den meinen erkannte, und hängte ihn mir um. Ich wußte nun auch wieder, daß eine
Wasserflasche da sein mußte. Ich suchte verzweifelt, doch ich fand sie nicht.
Dann machte ich mich auf den Weg. Der Busch war niedrig und nicht so dicht, wie
es von oben den Anschein hatte; ich kam ohne Schwierigkeiten voran und hatte
mein Ziel stets vor Augen. Eine Meile später fand ich eine Wasserflasche – ob
meine oder eine fremde, weiß ich nicht –, viertels voll. Dieser unglaubliche
Zufall gab mir ein irrationales, abergläubisches Selbstvertrauen, ohne das ich
heute nicht mehr am Leben wäre.
    Als ich den Fuß des Bergkammes erreichte, standen bereits ringsum
weitere Flecken in Flammen. Die Hitze sog einen leichten Wind an, der mir ins
Gesicht blies, doch auch weiterhin gingen überall Funkenschauer nieder, die oft
schon weit voraus einzelne kleine Feuer entzündeten. Einmal wäre ich beinahe in
einer Flammenfront gefangen gewesen, die plötzlich vor mir in einem Grüppchen
Yaccas aufsprang – kurzen, schmalen Bäumen, deren harzige Knospen mit der
Schnelligkeit einer Explosion Feuer fangen.
    Ein paar qualvolle Minuten lang suchte ich vergebens in der Felswand
nach einer Spalte oder sonst einem Einstieg: es schien, daß ich im wahrsten,
schrecklichsten Sinne des Wortes mit dem Rücken zur Wand stand. Doch bald
darauf fand ich einen Kamin, der vielleicht nach oben führte, und begann mit
dem Aufstieg. Es ist seltsam, wie ich in dieser Not über alles Wissen verfügte,
das man in einer Jugend in den Bergen erwerben mochte, obwohl ich an eine
solche Jugend keinerlei Erinnerung hatte. Und vielleicht weil mein Gedächtnis
wie eine frisch abgewischte Schiefertafel war, weiß ich noch heute jeden
Schritt und jeden Schmerz dieses verzweifelten Aufstiegs mit geradezu
seherischer Kraft. Als ich oben anlangte, stand ich an die neunhundert Fuß hoch
über einem flammenden Inferno, und in meiner Erschöpfung schien mir mein Berg
nichts weiter als ein gewaltiger Rost hoch über dem Feuer, auf dem ich umkommen
würde wie ein Märtyrer im Traum eines irrsinnigen Malers. Doch ich war in
Sicherheit.
    Über eine Stunde lang sah ich zu, wie das Feuer vorüberzog. Zwar
konnte es gegen die Felsbarriere nicht an, doch die Gluthitze der Sonne und der
heiße Atem des Nordwindes, der es anfachte, wurden noch um vieles sengender
dadurch. Der Aufstieg und die Hitze und der Schrecken all dessen hatten mich
für den Augenblick erschöpft; ich nahm einen vorsichtigen Schluck aus meiner
Wasserflasche und konzentrierte all meine Willenskraft auf den nächsten und
alles entscheidenden Kampf – den Kampf gegen die schiere Verzweiflung. Viele
Menschen, die durch die Wildnis streiften, haben sich in ähnlich gefahrvoller
Lage befunden, doch wenige, vielleicht im letzten Aufbäumen vor dem
Zusammenbruch, können ein Leiden wie das meine gespürt haben. Obwohl ich noch
alle Sinne beieinander hatte und meine körperliche Kraft kaum geschmälert war,
hatte ich doch jede Erinnerung daran verloren, wer ich war und wo ich war. Die
Landschaft zu meinen Füßen, das spürte ich deutlich, war nicht meine Heimat – es war Australien, da wo die Einöde am größten ist. Nicht daß ich mein
Gedächtnis verloren hatte – ich hätte einen lateinischen Text lesen oder den
Parthenon erkennen oder eine Fliege fürs Fliegenfischen auswählen können –,
doch was meine eigene Person anging, wußte ich nichts als: ich war ein Fremder,
verirrt im australischen Busch. So sehr ich mich auch mühte, kam ich über
diesen Punkt nicht hinweg. Was ich über mich selbst wußte, war nicht die Art
von Wissen,

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