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Klagelied auf einen Dichter

Klagelied auf einen Dichter

Titel: Klagelied auf einen Dichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Innes
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ein Gebet sprechen. Doch
ihr fiel keines ein – und auch die Hand, deren Berührung sie schon an der
Schulter erwartet hatte, kam nicht. Statt dessen begann sich der große Globus,
neben dem sie kauerte, zu drehen, die glatte, kalte Oberfläche fuhr ihr
gespenstisch über den nackten Arm; sie blickte noch einmal auf und sah, daß der
Herr nach wie vor in einer Art Trance war und sie nicht bemerkte, obwohl sie
direkt vor seiner Nase saß. Gedankenverloren, unverständliche Worte vor sich
hinmurmelnd, drehte er die verstaubte Welt im kleinen, die sich ihm unter den
Fingern ausbreitete, um ihre rostige Achse. Sie ächzte und knarrte, die kleine
Welt mit ihrem ausgeblichenen Gewirr von Ozeanen und Kontinenten, wie wohl auch
der Mond knarren und ächzen würde, wenn man ihn dazu bringen könnte, sich
wieder um seine Achse zu drehen. Dann wurde das kleine, quietschende Geräusch
der Welt, die sich in ihren Angeln drehte, übertönt von der heiseren,
schneidenden Stimme Guthries, die Worte nun deutlich vernehmbar für Isa, so
benommen vor Furcht sie auch war.
    »Er wird es tun! Es steckt ihm im Blut, und bei Gott, er wird es
tun!«
    Nichts in jener Nacht jagte Isa einen solchen Schrecken ein wie die
Stimme, mit der Guthrie diese Worte sprach, denn es war ein entsetzlicher
Gedanke, daß es etwas gab, das einen Mann wie den Gutsherrn in solche Furcht
versetzen konnte. Als sie die Geschichte in Kinkeig erzählte, da gab es manchen
Besserwisser, der behauptete, das Mädchen habe seine eigenen Gefühle aus
Guthrie herausgelesen, und unser Zeitungshändler – der, den wir immer den
wohlinformierten Mann nannten –, erklärte uns, daß es sich ganz offensichtlich
um eine sogenannte Übertragung handle. Doch Isa blieb dabei, daß es etwas gab,
wovor der Gutsherr große Furcht habe, und es sollten nur wenige Wochen
vergehen, bis die Leute sagten: Na, er hatte ja auch allen Grund dazu, und Isa
war das kluge Köpfchen, das es von Anfang an gewußt hatte; der Zeitungshändler
verkündete, er habe ja schon immer gewußt, daß die junge Dame einen hohen
Intelligenzquotienten habe.
    Unmittelbar nachdem er gesprochen hatte, wandte Guthrie sich ab und begann
in der Galerie auf- und abzugehen, doch stets zwischen Isa und der Tür, so daß sie
nach wie vor seine Gefangene blieb. Teils schwieg er, teils rezitierte er seine
Verse; Verse, die, so berichtete Isa, aus langen Listen schottischer Namen bestanden,
und dann folgte am Ende immer ein unverständliches Stück, vielleicht in einer fremden
Sprache. Isa wußte nicht, was es bedeuten sollte, und hatte es bei seinem Singsang
noch nie gewußt – nicht daß es sie allzu neugierig gemacht hätte. Fast wäre sie
aus ihrem Versteck hervorgekommen und zu ihrem Dienstherrn hingegangen, doch sie
hatte sich schon viel zu lange dort versteckt und ihm bei seinem Rasen zugesehen,
und er würde gewiß sehr wütend werden, wenn sie sich nun zu erkennen gab. Sie zog
ihr Nachthemd enger um sich – gewiß nur ein dünner Flitter, nicht das gute Flanellhemd,
das ihre Mutter ihr ins Herrenhaus mitgegeben hatte – und beschloß, daß sie die
Kälte aushalten mußte, bis Guthrie sich entfernte. Zumindest konnte er sie nicht
einschließen, denn die Tür lag in Trümmern. Und bald stellte sich das seltsame Gefühl
ein, daß der Gutsherr ihr Gesellschaft leistete, dort oben in der einsamen Galerie,
und es tat ihr fast leid, als er ein Stückchen weiterging, auch wenn sie natürlich
hoffte, daß er um die Ecke verschwände und sie dann die Flucht ergreifen könnte.
Einmal stieß sie einen kleinen Schrei aus – das zweite Mal, daß sie in seiner Gegenwart
geschrien hatte –, als sie spürte, wie etwas unten an ihrem Hemd zog: eine große
graue Ratte war es, die keine Furcht kannte und Augen hatte – so kam es ihr vor –, böse wie die Augen all der Guthrie-Gesichter, die ihr aus der langen Reihe der
Porträts von den düsteren Wänden der Galerie entgegenblickten. Doch auch diesmal
hörte der Gutsherr nichts; er war wunderlich in seine eigene innere Düsternis versunken,
rezitierte immer und immer wieder dieselben unverständlichen Verse, mit der gleichen
Inbrunst, mit der ein Katholik, der mit seinem Schiffe untergeht, unablässig sein
Ave Maria murmeln wird. Manchmal hielt er inne und starrte auf einen bestimmten
Punkt; Isa konnte nicht erkennen, was er da sah, obwohl er die Kerze am ausgestreckten
Arm auf Kopfhöhe hielt. Und einmal brach er in seiner Litanei ab, und es war so
still, daß sie draußen

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